Spielt die Grenzen fort


15 Jahre nach dem Ende der Apartheid hat Südafrika noch immer viele Probleme, aber auch eine Musiklandschaft, die immer vielfältiger wird - und längst mehr zu bieten hat als bunte Afropop-Stile wie Township Jive oder Kwaito. Zum Beispiel eine aufkeimende Indieszene.

Besser sie hätte Gas gegeben und die rote Ampel schnell hinter sich gelassen. „Plötzlich schlägt jemand die Scheibe ein, und eine Hand langt auf den Beifahrersitz“, erzählt Cherilvn MacNeil von ihrer gestrigen Nachtfahrt: „Der Typ greift nach etwas im Dunkeln, ich schreie, dann sehe ich, dass es ein Buch ist, das er erwischt.“

Cheri, Sängerin der Band Dear Reader, ist mit einem Schrecken davongekommen. Nicht weit von der Stelle, an der Cheri überfallen wurde, steht ein Warnschild: „Crime Hot Spot“. So glimpflich wie bei Cheri enden die wenigsten Überfälle in Johannesburg, der 2,5-Millionen-Metropole, der sie den Kosenamen „Gangster’s Paradise“ verpasst haben. Joburg ist aber mehr: Afrikas Boomtown und Wirtschaftsmetropole, gehassliebt für ihr kosmopolitisches Chaos, und der Mutterbauch des Kwaito, jener afrikanisch verlangsamten Variante der House Music, die nebenan in den Townships von Soweto zur Welt kam. Eine Stadt, zusammengesetzt aus den harten Kontrasten, die die Post-Apartheid-Gesellschaft produziert. Größer könnten die Gegensätze kaum sein zwischen den eingemauerten Anwesen der Superreichen im Vorort Houghton, wo Nelson Mandela wohnt und die Sicherheitskräfte mit MPs Streife laufen, und den abgerockten Spielplätzen der Armen nicht weit weg in Yeoville und Hillbrow, wo Drogenverticker und Flüchtlinge aus Simbabwe die Straßen säumen. Straßen, die halbwegs sicher nur motorisiert zu durchqueren sind. Heute ist Cheri mit mir im Geländewagen ihres Vaters unterwegs, Richtung Melville. Das Multikultiviertel mit seinen Retrobars („Berlin“) und mediterranen Restaurants („Soulsa“) zählt zu den Adressen, die man Besuchern gerne empfiehlt, ein kleines Bohemia inmitten der Verwüstungen und Luxusschlösser. Ein Ort, der auf Musiker eine starke Anziehungskraft ausübt. Cheri probt hier mit Dear Reader im Haus ihres Bandpartners Darryl. Dear Reader — neben Cheri MacNeil (24, Gesang, Piano) und Darryl Torr (34, Bass, Keyboards) Drummer Michael Wright (21) – sind eine untypische Band für südafrikanische Verhältnisse. Vom Zulu-Folk genauso weit entfernt wie vom grollenden Rock-Pathos, das viele weiße Bands produzieren – den US-Markt und die Major Companies immer im Visier. In Südafrika kann man mit Popund Rockmusik auch kaum überleben; Gospel, schwarze Kwaito-Musik und House saugen drei Viertel des Marktes auf. Es gibt elf Amtssprachen und mindestens so viele von regionalen Kulturen bestimmte Publikumssegmente, für die CDs produziert werden. Tatsächlich CDs. Südafrika hat noch einen wachsenden Tonträgermarkt. „Das liegt daran, dass zahlreiche Menschen in ländlichen Gegenden keinen Zugang zu Computern haben, keine Möglichkeit, Musik downzuloaden“‚, erklärt Rob Cowling, Generalmanager der Sheer Group, des größten unabhängigen Vertriebs in Südafrika. „Aber die Download-Welle rollt auch auf uns zu, via Mobiltelefon. Im Moment sind wir glücklich, fünf Jahre hinter dem internationalen Trend herzulaufen.“ Für eine Band wie Dear Reader war die popmusikalische Verlangsamung Südafrikas eher Fluch denn Segen: “ Wir hatten das Gefühl, auf der Stelle zu treten, es gibt nur wenige passende Live-Spots für uns, und Bands wie die Dodos oder Arcade Fire, die wir wirklich lieben, kommen nie nach Südafrika“, sagt Chen.

Aufgenommen haben Dear Reader ihr neues Album REPLACE WHY WITH FUNNY in den Tonstudios der staatlichen South African Broadcasting Company (SABC). Zwei Wochen verschwanden Cheri, Darryl und Michael hinter den dicken Mauern des Hochsicherheitsgebäudes, das noch aus der Apartheid-Ära stammt. „Wir waren wohl die letzte Band, die das analoge Equipment und die museale Aufnahme-Konsole noch benutzen konnte, das wird jetzt alles durch digitale Geräte ersetzt. „

Vielleicht noch wichtiger für das Album waren die Anforderungen von außen, denen sich Dear Reader mit wachsender Begeisterung stellten. Produziert wurden die zehn Songs von Brent Knopf von der US-Band Menomena, einem Garanten für das Unerwartete. „Brent hat sich gar nicht so sehr darum geschert, dass wir alles korrekt aufnehmen“, erzählt Darryl, der sonst selbst auf dem Produzentenstuhl sitzt und schon einen südafrikanischen Grammy eingeheimst hat — für seine Aufnahmen mit dem Soweto Gospel Choir.

„Anfangs habe ich mich sehr schwer getan, mit Brent zu arbeiten. Weil wir so unterschiedlich über die Aufnahmen dachten. Aber wir haben von ihm gelernt, dass es mehr um die Emotionen geht.“ Für Cheri war die Arbeit mit Brent Knopf eine Befreiung: „Einen größeren Spaß habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht in einem Studio gehabt.“ Dabei könnte die Musik von Dear Reader kaum dramatischer sein. Das Album mit dem etwas seltsamen Titel REPLACE WHY WITH FUNNY ist ein Liedzyklus über das Ende einer großen Liebe. Cheri MacNeil kurvt mit ihrer Stimme durch wilde Songfluchten, an deren Enden Waldhörner und Steinway Pianos auftauchen und Chöre, die klingen, als wollten sie die gewaltigen SABC-Mauern zum Einstürzen bringen.

Nicht gerade die Art Gospel, die man von den südafrikanischen A-cappella-Wappentieren Ladysmith Black Mambazo kennt. Oder von Miriam Makeba. Dass Miriam Makeba wie viele das Exil suchte und erst in den 1990ern von Nelson Mandela heimgeholt wurde, war vielleicht auch das Glück des Afro-Pop. Er durfte ein paar Aufsehen erregende Runden in der Welt drehen, bevor er in den Schleifen der Verwestlichung seine Konturen zu verlieren drohte. Daran hat auch der von ein paar Pop-Hipstern befeuerte Afrobeat-Hype der letzten Saison nichts grundlegend geändert — nein, mit Südafrika hatte 2009 keiner ernsthaft gerechnet.

Dabei gibt es einen hörbaren Willen zur Erneuerung, zur Überwindung der kulturell zugeschriebenen Rollen, die als Wurmfortsatz der Rassentrennung im modernisierten Südafrika überlebt haben. Die BLK JKS (Black Jacks) spielen Vorhut für ein sich wandelndes Selbstverständnis jener Schwarzafrikaner, die sich als „educated“ bezeichnen. Das Herz ihrer Songs schlägt in den weiten Ebenen eines ambitionierten Feldversuchs, der zu gleichen Teilen von den Ursprüngen der Musiker als auch von ihren neu entdeckten globalen Verbindungen erzählt. Wie würde es sich wohl anfühlen, Dub mit schroffen Rock-Gitarren und psychedelischen Texturen zu verbinden? Irgendwo im Hinterland der Songs sind ferne Echos jener Tribes zu hören, denen ihre Vorfahren angehörten, deren Sprachen sie noch beherrschen: Zulu und Sepedi. Die BLK JKS haben weniger Kwaito, HipHop und Soul im Fokus, sie suchen die spirituelle Nähe zu John Coltrane, ganz nebenbei wissen sie sogar den Rock’n’Roll der ehemaligen weißen Unterdrücker, der Burenjungs und britischen Gitarrenhelden, in ihre Sound-Epen zu integrieren. Als könne man die Grenzen jetzt endlich fortspielen, über Sprachen, Hautfarben, historische Ungereimtheiten hinweg.

„Man hielt die BLK JKS lange für eine Obskurität, für einen Geist, eine Band aus dem Nichts“, sagt Gitarrist Mpumi im Interview inMelville. „Aber du kannst spüren, dass wir wachsen.“ Erst einmal werden sie ihr Debüt-Album aufnehmen, in Indiana/USA, wo das Secretly Canadian Label sitzt, das BLK JKS unter Vertrag genommen hat. Einen Platz auf der internationalen Hype-Agenda haben die BLK JKS schon länger, seit Monaten werden ihre Tracks durchs Internet gereicht, die Band hat eine Zeitlang in Amerika verbracht.

Cheri MacNeil hat die anderthalb Jahre noch gut in Erinnerung, die sie in London lebte – jenen Fluchtversuch aus der typisch weißen Identitätskrise.

„Ich gehöre einer Minderheit in Südafrika an. Es gibt Momente, da lässt man uns die Verärgerung spüren: Besser du gehst dahin, wo du und deine Vorfahren, die dieses Land kolonisierten, herkommen. Aber ich nehme mich nicht als Britin wahr, nur weil meine Vorfahren aus Großbritannien kommen. In London habe ich mich sehr einsam gefühlt, sehr seltsam und anders als alle anderen.“ Einen Song auf dem Album hat Cheri dieser diffizilen Gefühlslage gewidmet. „The Same“ ist eine Hymne der Frustration geworden, die voller Verzweiflung auf dieses wunderbare Stück Erde schaut. „Ja, manchmal ist Südafrika so gruselig, dass ich nicht mehr hier sein möchte“, sagt Cheri. Als wir uns aus dem Highwaynetz wieder Richtung Zentrum bewegen, werden wir auf das große, alles entscheidende Ereignis gestoßen. Riesen-Banner mit Fußbällen, Plakate und eine monströse Skulptur im Bankenviertel downtown künden von der Fußball-WM 2010 – der Fußball soll die Nation endlich zusammenrücken lassen.

1200 Kilometer westlich im Touristenparadies Kapstadt sieht man die Dinge entspannt. Das 70000 Zuschauer fassende Stadion Green Point wird Ende 2009 fertig gestellt sein. Als traditioneller Entertainment-Spot tut die Metropole sich leichter mit Veranstaltungen dieser Art als Johannesburg. Und: Kapstadt besitzt die größere Clubszene. Heute hat Sheer Music einen Songwriterabend im „Mercury“ aufgelegt. Normalerweise stehen Rockbands auf dieser Bühne; und der Starship-Song, der aus den Boxen des Disco-Kellers dröhnt, lässt nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass man hier Rock-Mythen jenseits des Verfallsdatums anhängt: „We Built This City On Rock’n’Roll“. Ein Stockwerk höher hat Farryl Purkiss (28) seinen Auftritt, das Publikum lauscht der feinen Gitarrenmusik in religiöser Andacht, auf Kissen sitzend. Farryl Purkiss hat sich von seinen Songwriter-Wurzeln ein Stück weit entfernt, von der stimmungsvoll orchestrierten 2007er-CD und dem Debüt, deren Aufnahmen er mit Model-Jobs finanzierte.

Ganz zufrieden war Farryl mit der Show nicht, bei den beiden Songs vom neuen, im Frühjahr erscheinenden Album habe der Sound nicht gestimmt, sagt er am nächsten Morgen, als wir uns nahe der grandiosen Bucht von Camps Bay treffen, wo er wohnt. Gehörig die Werbetrommel rühren muss die kleine weiße Songwriterszene schon: „Es ist sehr schwierig, einen Club zu finden, der eine Bühne für etwas sanftere Musik bietet“, erzählt er. „Die meisten Clubs hier sind Rock- Clubs mit Bar, Dancefloor und allem, was dazugehört. Wir befinden uns noch in der Aufbauphase einer Clubszene. Aber die Türen öffnen sich gerade für neue Stile und neue Ideen.“

Aus Mangel an Live-Venues haben Musiker wie Farryl und Bands wie Dear Reader in Restaurants, Theatern, still gelegten Kinos gespielt. Farryl stammt aus Durban, der Ostküsten-Metropole mit der zweitgrößten indischen Community außerhalb Indiens. Ein Ort, der manchmal zu laidback ist, um in die Gänge zu kommen, meint er. Bei aller Hoffnung — raus aus diesem Land zieht es sie dennoch immer wieder alle. „Ich kann so viele Erfahrungen machen und Menschen treffen auf Tournee. Gerade Deutschland war großartig“, erzählt Farryl, als er seinen Gitarrenkoffer für ein Foto-Shooting aus dem Auto holt. WährendFarryl Purkiss noch keine größeren Live-Pläne für 2009 hat, stehen Dear Reader kurz vor ihrer ersten größeren Europa-Tournee. Die Band legt jetzt Überstunden im Proberaum ein. Letzter Email-Check, Cheri hat geschrieben.

„Wir haben unglaublich viel zu tun, üben jeden Tag, sind bereit für den Video-Dreh. Deutschland, wir kommen!“

Weitere Bilder zu diesem Artikel sowie aktuelle Plattenlipps aus Südafrika und eine Liste mit Klassikern der südafrikanischen Popmusik unter www.musikexpress.de/südafrika