Talking Heads – Kopfbälle im Planquadrat


Die Solo-Projekte der einzelnen Mitglieder lösten hartnäckige Trennungsgerüchte aus. "Wo stehen die Talking Heads eigentlich zur Zeit?" fragte sich unsere New Yorker Wühlmaus Charley Brown. Für ein ME-Interview frischte er seine alte Liebe zu dieser Band wieder auf, die inzwischen zu einer Supergruppe neuen Stils avancierte.

„Tina sperrt ihre wasserblauen Augen weit auf… Das ist ja unglaublich! Ich dachte, die Leute in Deutschland würden mehr auf so seichte Sachen wie Barclay James Harvest oder Dire Straits stehen.“ Nein, sie hatten bisher noch nicht gehört, daß sie in der Gunst des deutschen Publikums kontinuierlich gestiegen waren, daß ihre Live-LP im ME-Kritiker-Tip 4/82 zur „Platte des Monats“, gewählt wurde, ebenso wie David Byrnes Solo-Album zwei Monate zuvor.

Der Rotwein ist vorzüglich, das New Yorker Arbeits-Wohn-Loft riesig – David, Chris und Tina mir irgendwie altvertraut. Nur Jerry Harrison fehlt heute, doch ihn spreche ich einige Tage später in seinem schrill-pink bemalten Häuschen, mitten im Transvestiten Schwulen-Strich des West-Villages gelegen.

Ein paar Tage vor dem Interview höre ich nochmals alles durch, was es von ihnen auf Vinyl gibt. Rock-Musik-Geschichte der letzten sechs Jahre komprimiert. Vieles schon so vertraut, daß es sich selbstverständlich wie ein immer wieder benutzter Gedanken- und Gefühls-Ablauf einstellt. Ich bin zumindest streckenweise wieder überwältigt von den Talking Heads, nachdem ich zwischenzeitlich etwas Distanz bekommen hatte. Aber eine gewisse Distanz kann ja einer abgestumpften Liebe plötzlich wieder reizvolle Aspekte verleihen.

Eine alte Beziehung: 1977 versuchte ich in einem „Einer-gegen-Alle“-Kriegszustand vergeblich eine Besprechung ihres entscheidenden Debüts TALKING HEADS ’77 in einer Musik-Zeitschrift unterzubringen. 1978 sah ich sie zum erstenmal in England, dann wieder im Winter 78/79 anläßlich der zwei Onkel-Pö-Gigs in Hamburg. Eine Sternstunde für Deutschland, zusammen mit damals wahnsinnig frischen XTC. Ha, da ist schon der Einstieg zum Gespräch …

Jerry: Ja, ich erinnere mich. Ein wenig mit Nostalgie verbunden, das war eine sehr gute Zeit. Wir spielten alle diese kleinen Clubs, sprachen mit dem Publikum, mit den Leuten, die uns schon damals für sich entdeckt hatten. Manchmal (nachdenklich) vermisse ich das, den direkten Publikumskontakt. „

Probleme einer Supergruppe neuen Stils. Ich weiß genau, was er meint und erinnere mich angenehm jener zwei kalten Winternächte, als außer den pflichtbewußt anwesenden Angestellten entsprechender Plattenfirma nur noch, enttäuschte Alt-Rock-Fans und ein ganz, ganz winziges Kontingent hellhöriger Leute da waren.

Heute sieht das ja alles ganz anders aus. Wo aber stehen die Talking Heads eigentlich zur Zeit? Nach dem Ende der letzten Großband-Tournee spritzten alle Beteiligten in Einzel-Aktivitäten auseinander. Gerüchte vom Gruppen-Split waberten durch die Presse. Die nächsten konkreten Dinge, die man von ihnen hörte, waren Solo-Platten mit recht unterschiedlichen Intentionen. Chris und Tina, der Generals-Sohn und die Admirals-Tochter, widmeten sich ihrem karibisch-manhattischen Tom Tom Club, machten mit „Wordy Rappinghood“ einen Sommerhit, der geschickt Rap-Elemente verwendete.

Man hatte sich Nassau auf den Bahamas zum (kreativen) Ausruhen erwählt. David Byrne, wie immer ruhelos, kreierte Tanzmusik für Twyla Thaip’s „Catherine Wheel“-Ballett eine Platte, die sicher gehaltvoller, beständiger ist als BUSH OF GHOSTS, sein Gemeinschaftswerk mit Brian Eno. Nebenbei produzierte er noch die neue LP der B 52’s, seiner alten Freunde. Jerry Harrison schließlich legte seine Ideen, die er schon lange mit sich herumtrug, in der Solo-LP THE RED AND THE BLACK nieder. Nach und auch schon während der letzten Tournee, die mit dem „Rock-Pop“-Auftritt endete, kursierten ja eine Menge Gerüchte vom Auseinanderbrechen der Gruppe. Was war daran wahr?

Jerry: „Keine Frage, daß da gewisse Spannungen waren, aber das Ganze wurde in der Presse einfach überzogen. Einige Journalisten versuchen dich immer dahin zu kriegen, daß du negative Schlagzeilen von dir gibst. Solche Interviews fanden statt, während wir auf Tournee waren. Und da bist du oft müde. Ein beiläufiges Statement nach vier schlaflosen Nächten wird zu etwas hochfrisiert, was du gar nicht gemeint hast.“

Wie ist es denn nun, nach all den Solo-Projekten wieder zusammenzuarbeiten?

Tina: „Die Arbeit zu viert ist wieder sehr angenehm. Du weißt ja, man denkt immer, das Gras wäre grüner auf der anderen Seite. Aber letztlich fanden wir heraus, daß die Personen, mit denen ich jeden Tag arbeite, genauso gut sind wie diejenigen, von denen ich dachte, sie wären das Gelbe vom Ei.“

Ein interessanter Zeitpunkt für die Gruppe, die sich soeben anschickt, ein neues, gemeinsames Album zu machen, die Live-Doppel-LP nicht gerechnet. Im eigenen Studio bereiten sie sich darauf vor. Der Taxi-Fahrer stöhnt leise im „muß-das-sein“-Ton auf, als ich ihm während des Freitag-Abend-Stoßverkehrs die Adresse erkläre, fährt mich dann aber doch über die 59 th-Street-Bridge aus Manhattan raus, rüber nach Long Island City in Queens. Eine verlassene, düstere Gegend, Lagerhäuser, Fabriken, Endphasen-Szenerie für einen Kojak-Krimi, der Mörder weiß nicht mehr weiter.

Eins der Häuser macht einen bewohnten Eindruck. Das isses. „Redroof“ steht unten an der Tür. Hier wohnen Chris und Tina seit etwa sieben Jahren, hier wurden viele TH-Produkte vorgekocht und angerichtet.

Übrigens; David Byrne ist großstadt-blaß, Chris Frantz braungebrannt, gesund und überaus witzig, Tina hübsch wie eh. Oft übernimmt sie das Wort und hilft David bei der Artikulation eines Gedankens, wenn dieser ganz besondere Mann in entfernte Milchstraßen abzuschweifen droht oder den Faden verliert. Doch das hat merklich nachgelassen, David wirkt wesentlich entspannter und kommunikativer als früher.

Tina über Eno: „REMAIN IN LIGHT war eigentlich das einzige Album, an dessen Songs Eno maßgeblich mitgearbeitet hat. Die Musik entstand praktisch beim jammen – und am Ende entschied man sich eben hauptsächlich für die Basic-Tracks von Eno und David. Unsere Platten bedeuteten Eno immer sehr viel. Aber er versuchte, unsere Musik in eine bestimmte Richtung zu pushen. Und besonders war er eben an David interessiert. Das war für die Anderen nicht immer unbedingt angenehm, denn es war eigentlich nicht die Art, wie wir uns Zusammenarbeit vorstellen und wie sie früher bei uns stattfand. Allerdings war Eno auch nur deshalb so engagiert, weil er das Gefühl hatte, REMAIN IN LIGHT sei die beste Platte, an der er je gearbeitet hatte.“

Aber ihr habt nichts gegen ihn persönlich?

Tina: „Nein, nein, es hatte halt mit dem Business zu tun. Als Künstler und Person schätzen wir ihn sehr. Aber wenn du aus Jemandem die beste Leistung herausholen willst, dann darfst du nicht einfach nur deinen Emotionen freien Lauf lassen, wie das bei ihm der Fall war.“

Angenehm, daß eine Gruppe wie die Talking Heads offen über solche Konflikte spricht. Tina schlägt mir sogar vor, ich möchte doch Eno auch zur Sache befragen. Der allerdings spielt das Bowie-Spiel und macht sich rar.

REMAIN IN LIGHT hatte ja wohl im weitesten Sinne eine Art Konzept?

Tina: „Bei allen Alben hatten wir eigentlich nie ein festes Konzept, es war immer geprägt durch den jeweiligen Moment, durch eine Zeit, in der wir uns eben in eine gewisse Richtung entwickelten. Eno hatte nun sehr ausgeprägte Vorstellungen davon, wie REMAIN IN LIGHT klingen sollte, ihm schwebte ein Konzept vor, das vergleichbar war mit der afrikanischen Art von Musik-Machen. Dieses Feeling von „Jedermann macht-mit“, jedermann ist zu gleichen Teilen in die Musik verstrickt. Das war wichtig für Eno und es waren wohl auch Davids Ideen. Nicht wahr, David?“

Byrne, aus seinen Gedankenflügen zurückkehrend: „Ah, ja …“.

Die Beiden hatten zuvor an BUSH OF GHOSTS zusammengearbeitet und sich dabei offensichtlich gegenseitig beeinflußt.

David: „Ich glaube, wir sprachen in Interviews viel zuviel über den ethnischen Hintergrund. Aber wir gingen mit RE-MAIN IN LIGHT tatsächlich einen langen Weg zurück zu einer Art Roots, wir fingen praktisch bei Null an. Und dann kamen wir mit etwas zurück, das sehr nahe an dem liegt, was man Funk nennt.“

Ist denn das, was ihr jetzt vorbereitet, sehr verschieden von REMAIN IN LIGHT?

David: „Ja. Für mich ist es vor allem beeinflußt von all den Solo-Platten, die inzwischen entstanden sind. Der Talking-Heads-Sound ist aber natürlich immer noch vorhanden.“

Ich könnte mir vorstellen, daß den Talking Heads harte Diskussionen bevorstehen, denn sowohl Tina/‘ Chris als auch Jerry haben sich inzwischen als Songschreiber/Produzenten profiliert und werden diesmal bestimmt entscheidend am Entstehungs-Prozeß teilnehmen.

Tina zum Tom-Tom-Club-Album: „Schau mal, ich war für ein, zwei Jahre grundsätzlich ziemlich depressiv. Und wenn ich Texte schrieb, dann waren das alles deprimierende Sachen. Bedrohliche Songs. Steven Stanley (Produzent des Tom-Tom-Albums) hielt das einfach nicht aus und ließ mich die Sachen immer wieder singen. Und als ich es mir danach anhörte, dachte ich: Hm, überhaupt nicht so heavy, wie ich das eigentlich wollte, das hört sich eher nach Sesamstraße an! „Wordy Rappinghood“ war ein böser Song, ein richtiger downer, politisch es ging um die Lügen, welche die Leute dauernd erzählen. Als wir das nun mit dem Tom Tom Club aufnahmen, kam genau das Gegenteil heraus“.

David: „Mit den Texten ist das bei uns ein Ding für sich. Die Leute nehmen sie einfach vielzu‘ ernst. Vieles wollten wir eigentlich als komisch verstanden wissen. Beispielsweise der Gesang auf FEAR OF MUSIC war sehr funny – aber dann kamen viele Leute und sagten: „Ja, ja, David Byrne singt wieder von Problemen.“

Tina: „Das ist das Kreuz: Wenn wir einen unverblümt sexuellen Song machen würden, etwa wie „I Wanna Fuck You“ oder sowas, dann wüßten die Leute nicht, ob sie das nun für bare Münze nehmen sollten oder nicht…“.

David: „Ich habe mich übrigens an Sex-Texten versucht, bin aber noch nicht so richtig damit klargekommen.“

Tina: „Das perfekte Beispiel ist immer noch „Psycho Killer“, ein völliger Scherz – aber die meisten Leute nahmen das sehr, sehr ernst.“

David: „Das kommt daher, daß ich immer wie Anthony Perkins aussehe.“

Tina: „Ho, ha ho, ho, ho, ha, ha! Nein, ich finde, heute siehst du mehr wie Gregory Peck aus!“

David: „Ja? Hu, hu …!“

Aber nehmen wir mal den Zusammenhang zwischen „Listening Wind“, diesem Gesang des Indianers im Großstadt-Schrott – und dem darauffolgenden „Overload“, dem tristen Zustandsbild einer End-Zivilisation – ist das als Witz gedacht?

David: „Da hast du recht, das war bitterernst. Wenn ich sage, daß unsere Sachen oft funny sind, dann in derselben Weise, wie ein Komödiant komisch ist, der nimmt seinen Humor durchaus ernst.“

Jerry Harrison, das vierte Rad, äußert sich in ähnlichem Sinne. Seine Solo-LP THE RED AND THE BLACK reflektiert denn auch deutlich Zeit-Probleme. „Ich glaube schon, es gibt auf meiner Platte eine apokalyptische Qualität. Der Titel der LP bezieht sich auf eine Schweizer Polit-Gruppe von ’68, die sich „The Situationists“ nannte. Ihr Standpunkt war der, daß man persönliche Politik machen sollte auch gegen die Unterdrückung durch den Staat. Die Beziehungen und Strukturen einer kleinen Gruppe gegen die Unterdrückung. Ich sah diese zwei Emotionen, die eine pessimistisch, belegt mit der Farbe schwarz – und die andere aktivintensiv, ausgedrückt durch rot. All diese Ideen hatten mit dem zu tun, was bei meinen Songs rauskam.“

Spannend abzuwarten, wie sehr sich sein Einfluß auf zukünftige TH-Projekte niederschlägt Denn mit allen Vieren ist auf der nächsten Platte zu rechnen.

Jerry: „Ich würde sagen, wir machen den gleichen Gebrauch von Poly- und Crossover-Rhythmen („Free-Style“ nennt es Tina) wie wir das schon bei REMAIN IN LIGHT gemacht hatten, aber wir destillieren diesmal mehr, es dürfte sparsamer im Sinne der früheren Alben werden, vier Linien schaffen das gleiche wie acht.“

Es gilt, das Problem einer Gruppe von vier mittlerweile kreativ voll ausgewachsenen Individuen zu lösen. Nichts scheint auf einen gravierenden Konflikt hinzuweisen, so schwierig es sich auch gestalten mag, unter soviel Erwartungsdruck von außen zu arbeiten. Aber jeder einzelne Talking Head ist einfach viel zu klug, um in die überdimensionalen Ego-Trips dummer Rock-Stars von früher zu verfallen.