Genesis: Neue Platte, neue Tournee


Mit dem neuen Drummer Chester Thompson (Bildmitte) bereiteten sich Genesis in ihrem Übungsstudio ("The Farmyard") in Berkshire auf ein hartes Konzertjahr vor. Anfang Januar fiel dann der Startschuß zur Welttournee.

Als Peter Gabriel ging, schien Genesis auf dem Höhepunkt des Erfolges angelangt. Achtzehn Monate später indes trifft das Rest-Quartett alle Vorbereitungen für einen weiteren Triumphzug durch die größten Konzerthallen der Welt. Die neue Platte („Wind And Wuthering“) liegt seit der Jahreswende vor, die neue Show ist erfolgreich probegelaufen – bei der spektakulären Wiedereröffnung des Londoner „Rainbow Theatre“. Nach der obligaten England-Tour beginnt jetzt eine zweimonatige Mammut-Reise durch die USA, dann folgen Japan, Australien, Europa, Südamerika. Deutschland dürfte im September an der Reihe sein. Phil Collins‘ lakonischer Kommentar zu solcher Live-Schinderei: „Unser Arbeitseifer wächst mit dem Erfolg.“

Die Zeichen der Zeit stehen günstig für Genesis. Das bewiesen schon die Verkaufszahlen von „A Trick Of The Tail“, dem ersten Gruppenprodukt nach dem 75er Split. Das bestätigte auch die erste große Tour ohne Peter Gabriel, die im vergangenen Jahr über die Bühnen gegangen war. Im 76er Pop-Poll wählten die Leser des ,,Melody Maker denn auch „Trick Of The Tail“ (Streich des Schwanzes) zur besten Platte des Jahres, die Gruppe selbst zum weltweiten Live-Act Nummer eins.

Angesichts der künstlerischen Beständigkeit von Genesis könnte sich das 1977 glatt wiederholen. Dafür jedenfalls spricht zunächst einmal der nagelneue Longplayer der Gruppe, welcher – Kuriosum am Rande – hierzulande ein paar Wochen früher erschien als im Vereinigten Königreich. Man wollte im Falle dieser umsatzträchtigen Einzelveröffentlichung einem ewigen Branchenärgernis ans Leder; den „Billigimporten“. Per Umstaffelung der Veröffentlichungs-Termine ist die deutsche Phono-Wirtschaft naturgemäß am besten gegen zollfreie Dumping-Ware gefeit.

So rollte das mit deutscher Textbeilage ausgestattete Album „Wind & Wuthering“ noch vor Weihnachten in unsere Plattenläden. Die meisten Käufer dürften allerdings bei der Beantwortung der naheliegendsten Frage kapituliert haben: war „A Trick Of The Tail“ besser oder schlechter?

Soundschwelgerei

Nun, die Platte war keins von beidem. Zu ausgereift ist das Klangkonzept von Genesis inzwischen , zu ähnlich auch sind die Produkte der Band. Im akustischen Niemandsland zwischen Soundschwelgerei und Feinnervigkeit eben ist auch der jüngste Ohrenschmaus aus der Collins-Küche angesiedelt. Phil Collins (26), neuer Motor der Genesis, der zum Ausgleich nebenbei noch in einer Jazzrock-Formation namens „Brand X“ trommelt,  bestätigt sich aufs neue als souveräner Vokalist, so vielseitig wie die Songs der Gruppe. Die Platte geht großinstrumentiert los, straight und rockig, mit der säbelrasselnden Geschichte des“.Eleventh Earl Of Mar“, einer Story voll Schizophrenie und Albtaumhaftigkeit. Den historischen Background lieferte ein mittelalterlicher Aufstand in Schottland.

Der nächste Track ist der vielleicht schönste der ganzen LP: das dreiteilige, überwiegend zart-melodiebetonte „One For The Vine“. Entbehren die Genesis-Texte auch oft jeder greifbaren Aussage (Mike Rutherford:,, Bei uns zählt nur die Musik. Der Rest ist Illustration“), so ist die Weinstock-Parabel doch überaus bestrikkend. Ein Krieger flieht vor der Tyrannenherrschaft und wird vom Schicksal seinerseits auf den Schild gehoben. Durch einen geschickten Kunstgriff geht die gradlinige Erzählung am Schluß in eine Kreisform über, wird zur Endlos-Fabel, die ihre Pointe ständig wiederholt. Organist Tony Banks zu dieser Fantasybeeinflußten Allegorie: “ Wir haben hier versucht, ein Phänomen in den Griff zu bekommen, das auch uns Rockmusiker betrifft. Da verläßt man seinen untergeordneten Platz in der gesellschaftlichen Hirarchie, um einen besseren Lebensstil zu finden, und was machen die Fans? Sie ernennen einen zum Star. Und plötzlich ist man selber eine Autorität, vor der man wegläuft.

Mit Odysseus auf Tour

Musikalisch nicht minder hübsch ist „You Have Your Own Special Way“, dessem Text das Odysseus-Motiv zugrunde liegt. Dagegen mutet der Ausklang der ersten Plattenseite, der Instrumental-Titel „Wot Gorilla?“, wie ein purer Füllstoff an. Wahrscheinlich ist er’s auch.

Um einiges ergiebiger ist der Instrumental auf Seite zwei: „Unquiet Slumbers For The Sleepers… In That Quiet Earth“, der in seinem Synthesizer- und Schlagzeug-Parts bisweilen überraschend Yes-nah ausfällt. Doch bestärkt er den Eindruck: Genesis-Songs leben auch von ihren Texten, mögen sie noch so bizarr, als reine Lautmalerei gedacht sein. Wie der Auftakt der rückwärtigen LP-Seite, „All In A Mouses Night“. In diesem üppig arrangierten Stück hat eine zentrale Baßfigur aus dem Broadway-Album von Genesis neuerlich Verwendung gefunden. Sie verleiht den rechten Drive einem Tierdrama, das sich Kindermärchen-Fanatiker Tony Banks (26) ausgedacht hat: Riesenmaus erschlägt Katze mit Kochtopf.

Kriegerisch geht’s auch im nächsten Song zu: „Blood On The Rooftops“, eingeleitet von der perlenden Konzertgitarre Steve Hacketts. Einer weitgespannten Melodieführung aufgesetzt werden Feierabend-Gedanken zur Scherbenwelt der Fernsehnachrichten. Der erwähnte anschließende Instrumental geht nahtlos über in den Mellotron-Ausklang „Afterglow“, wie „Your Own Special Way“ eine ungewöhliche, in eine Klage verpackte Liebeserklärung.

Resignierend klagend und unterkühlt: Das ist die beherrschende Stimmung übet die ganze Platte hinweg, die dermaßen aus einem Guß ist, daß Solo-Leistungen zu würdigen Widersinn wäre. Genesis: Das ist Musik aus dem Eisschrank, Rock on the Rocks – in ihrer Sparte das Beste aus Großbritannien.

Der LP-Titel „Wind & Wuthering“ ist übrigens aus dem Roman „Wuthering Heights“ der britischen Klassikerin Emily Broute nachempfunden, einer Geschichte um einen gruseligen Landsitz, die den Stimmungsnerv der Genesis-Leute so richtig traf.

Live im Rainbow

Die Live-General-Probe für das neue Album lief Anfang Januar im Londoner „Rainbow Theatre“, der ISO Jahre alten Konzerthalle, die 1974 wegen Geldmangel geschlossen wurde. Jetzt sanierten drei betuchte Rock-Fans den neomaurischen Musentempel und konnten sich bei der Eröffnungs-Show über Zuschauermangel nicht beklagen 8.000 Tickets standen zur Verfügung, aber 80.000 Kartenvorbestellungen gingen für die drei Genesis-Gigs ein: einen besseren Tourneestart hätte sich die Gruppe kaum wünschen können.

Das Genesis-Repertoire ist schier unerschöpflich. In London tauchte über zwei Konzert-Stunden hinweg nicht eine Minute Leerlauf auf, vom ,,Eleven the Earl“-Einstand bis zur „Lamb Lies Down/ Musical Box „-Zugabe. Einiges Augenmerk richtete sich auf den neuen Drummer, der live Schlagzeugparts von Sänger Collins zu übernehmen hat. Auf der letzten Tour war das noch Bill Bruford gewesen, der jedoch wieder absprang.

Eine neue Aushilfskraft fand die Band dann in dem farbigen Musiker ehester Thompson, der sich seine Sporen bei Frank Zappa und Wheather Report verdient hatte. Thompson („Ich fühle mich hier freier als bei der freiesten Free-Jazz-Gruppe“) trommelte schon beim zweiten Genesis-Konzert so einfühlsam, als wäre er seit Jahr und Tag dabei. Unglaublich machtvoll und präzise fiel beider Zusammenspielt aus, wenn Phil Collins einmal das Mikrofon mit den Schlagstöcken vertauschte.

Präzisionsmaschine

Wie eine Präzisionsmaschine rollte überhaupt die ganze Show ab, die man ebenso mit geschlossenen Augen hätte genießen können. Abgesehen von sparsamen Laser- und Nebelexperimenten und Phil Collins obligaten Slapstick-Einlagen wurde nichts als gute Musik geboten. Mike Rutherford bestätigt: „Phil ist der einzige Performer der Gruppe. Wir anderen legen keinen Wert auf Show-Gebaren. Wir tun nur unseren Job -und das ist Spielen.“

Die Genesis wird dieser Job ein ganzes Jahr lang über in Atem halten. Am meisten freut sich die Gruppe auf den Kontinent, wo sie bekanntlich die stärkste Anhängerschaft besitzt. Wer von ihren deutschen Fans sich allerdings bis zum September nicht mehr gedulden mag, der kann sich derweil mit einem Genesis-Film trösten, der bereits Mitte Januar in München anlief. Er wurde live in Stafford aufgezeichnet und wird zusammen mit dem Streifen „White Rock“ gezeigt, einer Innsbruck-Olympia-Nachlese mit dem Soundtrack von Rick Wakeman.