IN SCOTT WE TRUST


SCOTT WALKER

THE COLLECTION 1967-1970

Universal

Vom Barock-Pop bis hin zum existenzialistischen Klanggemälde: Die ersten fünf Alben des Jahrhundertsängers in aufwendigen Fünf-CD-bzw. -LP-Boxen.

„Make It Easy On Yourself“.“My Ship Is Coming In“. Und vor allem natürlich der Überhit: „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“. Als Walker Brothers stiegen die US-Amerikaner John Maus, vulgo: Walker, Gary Leeds und Scott Walker, vormals Engel, Mitte der Sechziger dank Everly-Brothers-Harmonien, einem spectoresken „wall of sound“ und superben Melodien vor allem in Großbritannien zu Popstars auf – zu so etwas wie, pardon, „the thinking man’s Bee Gees„. Doch bald schon sollte der Mann, „dessen Stimme einem Engelschor gleicht, der in der Unterwelt gefangen gehalten wird“, so David Bowies treffliches Verdikt, sollte also Scott Walker Hits und Hysterie den Rücken kehren – und sich in düstere Gefilde begeben, sein samtener Bariton fortan einen so wunderlichen wie wunderbaren Songkanon formen, ein Lebenswerk von einzigartiger Schönheit. Ums mal deutlich zu sagen: Von den zwölf, dreizehn Alben, die der Mann aus Hamilton, Ohio, zwischen 1967 und 2012 aufgenommen hat, gehören acht in jede Top-100-Bestenliste.

Vor allem sind dies jene, die vier Fünftel der aufwendig gestalteten Fünf-CD- bzw. Fünf-LP-Box THE COLLECTION 1967-1970 ausmachen: SCOTT, SCOTT 2, SCOTT 3 und SCOTT 4. Doch der Reihe nach: Auf SCOTT setzt Walker den orchestralen Wohlklang der Brothers fort, die Streicher schwelgen und sind doch nie schnöder Selbstzweck, sondern verleihen den Songs einen unvergänglichen Zauber. Und was sind das für Songs: „Mathilde“, „My Death“ und „Amsterdam“ aus der Feder von Walkers Seelenverwandtem, Jacques Brel, dazu Tim Hardins „The Lady Came From Baltimore“ und Scotts eigener Geniestreich „Montague Terrace (In Blue)“. „This album is a man’s work and the portent of greater things to come“, schreibt Keith Altham in den Original-Liner-Notes. Am Ende sollte das so eklektische wie enigmatische Werk 17 Wochen in den UK-Charts stehen und sogar bis auf Rang drei vorstoßen. Auf SCOTT 2 folgt Walker weiter dem bewährten Konzept aus Covers (u.a. wieder von Brel und Hardin) und Originalen, doch sind die Verfeinerungen unüberhörbar: Das Monolithische seines dramatischen Barock-Pops weicht chansoneskem Barmen, mitunter sogar einer leichtfüßigen Eleganz, ohne dass auf die große Geste, die prunkvollen Arrangements verzichtet würde. Womöglich gilt vielen deshalb Scotts zweites Solowerk als sein bestes. Verdienter Lohn: die Spitzenposition in den Charts. Der Künstler selbst äußerte sich kritisch – oder war’s bloße Koketterie, die ihn sagen ließ: „Now the nonsense must stop, and the serious business must begin“?

Und wie ernst es wurde. In SCOTT 3 scheint rückblickend schon viel von dem angelegt, was auch seine späten Großwerke – CLIMATE OF HUNTER (1984), TILT (1995), THE DRIFT (2006) und BISH BOSCH (2012) – so einzigartig machen sollte: das Dissonante, das unterschwellig Bedrohliche, das Hermetische, das Rätselhafte. „Andy Williams, der sich als Stockhausen neu erfindet“, spöttelte ein Kritiker. Walker steht im Zenit seiner Karriere, hat eine eigene TV-Show bei der BBC – und veröffentlicht mitten hinein in diese Hochphase sein bis dato experimentellstes Werk: Reduzierter, abstrakter, auch noch des letzten Restes von Pop-Appeal entbehrend, bohren sich die zehn Walker-Songs plus dreier Brel-Interpretationen ins Bewusstsein, um nie wieder zu verschwinden. Den gloriosen Abschluss dieser atemberaubenden Tetralogie bildet SCOTT 4, im November 1969 erschienen: Camus-und Bergman-Bezüge („The Seventh Seal“), politische Reflexionen („The Old Man’s Back Again“ verhandelt den stalinistischen Terror) und streicherumflorte Elegien wie „Angels Of Ashes“,“Duchess“ und „Boy Child“, die klingen wie nicht von dieser Welt – und wie nichts auf dieser Welt.

Während diese vier Alben immer wieder neu aufgelegt wurden, ist – welch Ironie – das schwächste Werk, TILL THE BAND COMES IN, das eigentliche Prunkstück der Werkschau: Der lange vergriffene und zu horrenden Preisen gehandelte Longplayer wirkt lyrisch, musikalisch und konzeptionell unentschlossen – ein thematisch lose verbundener Songzyklus trifft auf uninspirierte Aufnahmen von Pop-Standards. Ein Schnellschuss: im September 1970 geschrieben, im Oktober und November aufgenommen, im Dezember veröffentlicht. So ging das damals. Und doch: schön, dieses halb vergessene, wie sämtliche hier versammelten Alben nach allen Regeln der Tontechnikerkunst klanglich aufb ereitete Stück Musik wieder zu hören.

Was uns zur Ausstattung dieser Boxen bringt: superbes Remastering, originales Artwork, rare Fotos und Liner Notes des Walker-Experten Rob Young, in der tonnenschweren Vinyl-Ausgabe gar ein 42-seitiges Essay Youngs und diverse Interviews. Eine Göttergabe, nicht weniger. So gilt denn das Glaubensbekenntnis von gestern auch heute: In Scott we trust.

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Trivia

Scott Walker (geb. 9. Januar 1943) hat die – neben Van Morrisons ASTRAL WEEKS – großartigsten unverkäuflichen Alben aller Zeiten aufgenommen: NITE FLIGHTS (1978) mit den Walker Brothers sowie das Solowerk CLIMATE OF HUNTER (1984), das so wenige Abnehmer fand wie keine andere LP in der Geschichte des Virgin-Labels. Endlos ist die Zahl der Bewunderer: David Bowie, Brian Eno, Marc Almond, Jarvis Cocker, Radiohead u.v.a. werden nicht müde, Walker und sein Schaffen zu preisen.