SKLAVEN DER MASCHINEN


Beginnen wir doch damit: Definiere „Synthie-Pop“! Das ist simpel: Das ist Popmusik, die mit Synthesizern gemacht wird. Aber es geht noch weiter: Wirken dennoch Bassist oder Schlagzeuger mit, haben diese sich möglichst unauffällig zu verhalten. Den Gitarristen: hat man längst rausgeworfen. Nur der Sänger genießt gewisse Freiheiten. Und doch wird auch er nur milde hampelnd seine schlichten Melodien vortragen. Außer er heißt Dave Gahan, dann darf er selbstverständlich spektakeln.

Erste Szene, Oktober 1979: Ein TV-Studio. Man sieht einen jungen Mann mit großer Brille und couchgrünem Kunstfaser-Oberhemd im Konferenzstuhl. In den schlierigen Farben des 70er-Jahre-Fernsehens leuchtet seine Naturkrause feuerrot. Einblendung: „Andy Batten-Foster“. Andy kündigt süffisant einen Playback-Auftritt von The Human League in der BBC-2-Show „Mainstream“ an: „Sie sind die wohl erfolgreichste britische Gruppe, die ,German style electronics‘ und eine recht kommerzielle Form der Melodieführung kombiniert. Viele Leute sehen in ihnen die ,Inspiration‘ – um es höflich auszudrücken – für den aktuellen Erfolg von Gary Numan …“ Der Begriff Synth(ie)-Pop hat sich zu dieser Zeit noch längst nicht etabliert. Aber es ist von Anfang an offensichtlich, woher die blassen Buben aus Sheffield oder aus Basildon im Speckgürtel Londons ihre „Inspiration“ haben, um es höflich auszudrücken: von Kraftwerk und ihren „German style electronics“. Nicht nur Andy Batten-Foster begegnet diesen unrock’n’rolligen und handwerklich dubiosen Handlungen mit einer Mischung aus distanzierter Neugierde und snobistischer Skepsis.

Doch zunächst zur Vorgeschichte: Walter (später Wendy) Carlos etabliert 1968 den (Moog-)Synthesizer mit den Klassikinterpretationen von SWITCHED-ON BACH als Melodieinstrument. Auch bei den Monkees, den Stones und den Beatles ist der Moog da schon zu hören. Ende der Sechziger koppeln die Berliner Krautrocker Tangerine Dream den Synthesizer mit einem Sequencer, sodass sich das Instrument fortan gewissermaßen selbst spielt. Gruselig! Der erste triviale Hit des Synthie-Pop trägt 1972 den Titel „Popcorn“ und stammt von dem One-Hit-Wonder Hot Butter. Weitaus elementarer: Donna Summers hypnotischer Sequencer-Marathon „I Feel Love“ vom Juli 1977, mit dem der Südtiroler Produzent Giorgio Moroder die Discomusik elektrifiziert, verhärtet und damit schließlich begründet, was bis heute unter dem tausendfach fortgeschriebenen Begriff „Dance“ Menschen in Bewegung bringt. Vergessen dürfen wir aber auch nicht musikalische Landschaftsgärtner wie Jean Michel Jarre aus Frankreich und Vangelis aus Griechenland. Und Brian Eno natürlich, der von David Bowies „Berlin-Trilogie“(LOW, „HEROES“, LODGER) aus kühle Sounds weit hinaus ins Popland strahlen lässt.

Aber das alles interessiert Gary Numan oder die Mitglieder von The Human League, OMD oder Depeche Mode am Ende der Siebziger nicht. (Nun, Eno und Bowie vielleicht schon ein bisschen.) Sie interessieren sich nur für Kraftwerk. Denn Kraftwerk sind ein bahnbrechendes, in sich geschlossenes System in Sachen Sound, Aussage, Image, Artwork. Sie sind die Roboter. Und alle anderen sind das nicht. Und somit sind Kraftwerk auch allemal Grund genug, das eigene Rockinstrumentarium gegen Synthesizer einzutauschen.

Äußerlich stellt dieser Wechsel, der sich tatsächlich nur bei einer Minderheit junger Popmusikschaffenden und das fast ausschließlich in England (und Japan!) vollzieht, eine größere Revolution dar, als Punk(rock) je hätte sein können. Spätestens im Postpunk hatte sich ja bereits die Erkenntnis durchgesetzt, dass Punk kaum mehr war als schnellerer, dreckiger Rock’n’Roll. An der grundsätzlichen Aussage der Popmusik hatte sich seit Elvis Presley somit also kaum etwas geändert. Die Abschaffung der Gitarre aber, der freiwillige Rückzug hinter Maschinen und damit der Verzicht auf jede mehr oder weniger sexuell interpretierbare Animation des Publikums, stellt einen tatsächlichen Bruch mit der Tradition dar.

Zweite Szene, September 1979: Eine Prä-Daft-Punk-Bühne. Gary Numan trägt eine rote skinny tie zum schwarzen, schmal geschnittenen Anzug. Seine auf zwei Stockwerken ins Regal gestellte Band zeichnet sich nur in Silhouetten vor der Kulisse ab, auf der Neonlicht-Balken auf- und abmarschieren. Numan bewegt sich eckig, ohne jedoch den Düsseldorfer Roboter zu geben. Dafür versprüht er die Arroganz des jungen Kinski.

In das Hammersmith Odeon in London, in dem Gary Numan an diesem Abend auftritt, passen 5000 Menschen. Im Jahr zuvor war der Sohn eines Busfahrers quasi noch ein Unbekannter. Jetzt hat er in elf Monaten drei Alben veröffentlicht. Zwei gehen auf Platz 1 der UK-Charts. Ein Mitschnitt dieses Abends wird zudem als erstes käufliches Konzert-Video der Geschichte gereicht werden. Vielleicht ahnt der neue androgyne Star, der eine für diesen Zeitpunkt perfekte Schnittmenge aus Kraftwerk und David Bowie bildet (und seinen Gitarristen trotzdem oder gerade deshalb niemals rauswerfen wird), ja schon, dass er und seine Zukunftsmusik schnell der Vergangenheit angehören werden.

Aber lassen wir das Treiben doch erst einmal beginnen: Von The Human League aus Sheffield, deren erste Single „Being Boiled“ aus dem Juni 1978 als eine der ersten britischen Elektropop-Veröffentlichungen überhaupt gilt, spaltet sich 1981 eine zweite Band ab: Heaven 17, die dermaßen viel Funk, Soul und politisch relevante Inhalte in ihre Musik packen, dass plötzlich sogar die größten Kritiker des neuen Sounds anerkennend im Takt nicken.

Orchestral Manouevres In The Dark, ein Quartett manierlicher Pullunder-Träger aus dem Nordwesten Englands, emanzipiert sich vom Kraftwerk-im-Hobbykeller-Projekt zu einer Elektronikpopband, die tragfähige Albumkonzepte vorzuweisen hat, aber auch Singlehits landet – mit „Maid Of Orleans (The Waltz Joan Of Arc)“ sogar den erfolgreichsten in den deutschen Jahres-Charts 1982. Den Jungs von Depeche Mode, die 1981 mit Schlenkertanz-Nummern wie „Just Can’t Enough“ Kraftwerk und Hot Butter gewissermaßen nachträglich vermählen, wird hingegen keine große Zukunft beschieden. Auch der Musikexpress weist ihrem Debüt SPEAK & SPELL einen Platz in der zweiten Reihe zu: „Freundliches Blubbern, reizvolle Harmonien, sanft gehauchter Gesang. Sehr anschmiegsam. Manchmal. Aber manchmal auch sehr langweilig.“

Diese Beispiele stehen für die frühen Auswirkungen einer Zeitenwende, die in dem Moment, als Gary Numan zum ersten Mal den Future-Kinski markierte, noch undenkbar schien. Aber den Fortschritt durch Technik hält eben keiner auf: Anfang der Achtziger liefern Korg, Roland, Oberheim und Moog Instrumente aus, die nicht nur kompakter, einfacher zu bedienen und variabler einsetzbar sind als ihre Vorgänger, sie sind vor allem erheblich günstiger. Mit dem Erscheinen von Yamahas digitalem DX7 im Jahr 1983 übernimmt der Synthesizer endgültig die Popmusik.

Die Grenzen des Synhtie-Pop zerfließen dadurch zusehends, vor allem zu New-Romantic-Bands wie Culture Club, Duran Duran oder Spandau Ballet, die die farbensprühende Exaltiertheit des Glamrock zurück auf die Bühne holen. Selbst die Rockmusik wird auf breiter Front von den Heimsuchungen des Synthesizers ereilt: Wer genau hinhört, kann den Aufschrei der Fans der hardrockenden Gniedelkönige Van Halen auch knapp 30 Jahre später noch nachhallen hören, als ihnen zum ersten Mal das Synthesizer-Riff von „Jump“ in die Glieder fährt.

Aber auch die Basis des Synthie-Pop setzt neue Impulse: Diese Entwicklung personalisiert sich durch den Ausstieg von Songschreiber Vince Clarke bei Depeche Mode und die Gründung von Yazoo. Das Duo von Clarke und der Soul-Sängerin Alison Moyet steht für die Idee, der als steril empfundenen synthetischen Musik eine leidenschaftliche Stimme gegenüberzustellen. Auch bei den Eurythmics und Soft Cell geht dieses Konzept auf. Doch die Materialschlachten von Trevor Horn, der sich mit seinen imposanten Produktionen unter anderem für ABC und Frankie Goes To Hollywood fast schon lustig macht über die Konkurrenz, scheinen schon das Ende des Synthie-Pop einzuläuten. Ein weiteres sicheres Anzeichen für den baldigen Untergang dieser Ära: In der halben Welt gibt es inzwischen Epigonen. Die Münsteraner Band Alphaville, die 1984 mit „Big In Japan“ einen halben Welthit landet, gehört da noch zu den einigermaßen rühmlichen Ausnahmen. Doch wer etwas auf sich hält, macht sich jetzt vom Acker.

Dritte Szene, Dezember 1984: Der erste Blick fällt auf die Frisur. Dave Gahan trägt seine Haare als Brikett, den obersten Zentimeter blond angefressen. Man sieht Schweißflecken auf seinem blassblau gescheckten Hemd. Zum Intro von „Blasphemous Rumours“ darf er sich endlich ein wenig ausruhen. Der Rest der Band – in noch mehr Leder geschnürt als der Sänger, der es bei einer Lederhose belassen hat – muss umso härter ran. Sie hämmern mit entschlossener Miene auf Wellblechplatten und Metallstangen ein.

Alles nur Show zwar, die Depeche Mode in der Alsterdorfer Sporthalle in Hamburg da aufführen: Die Industrial-Sounds kommen aus der Maschine. Doch die Botschaft ist eindeutig -und wird durch den provozierenden Text des Stücks noch unterstrichen: „Wir sind sind nicht mehr die ,freundlich blubbernden‘ Jungs aus Basildon!“ Wichtiger aber ist folgende Tatsache: Depeche Mode benutzen Samples!

Sich laufend mit den neuen Entwicklungen in der elektronischen Musik auseinanderzusetzen, ist bis heute eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg von Depeche Mode geblieben – neben der Songwriter-Begabung von Martin Gore und Gahans Showtalent. Doch tatsächlich wird das Sampling dafür sorgen, dass ihrem Hausgenre der Strom abgeschaltet wird – oder anders: Depeche Mode werden bald schon als dessen einziger maßgeblicher Vertreter übrig bleiben. Denn wenn aus Keyboards jeder erdenkliche Klang herausgeholt werden kann, wer braucht dann noch einen Anachronismus wie den Synthie-Pop?

Die Gitarren-Fraktion jubelt natürlich. Nicht nur darüber, dass der Synthesizer sich vermeintlich im Rückzug befindet, sondern dass Bands wie The Smiths oder U2 in diese Lücke stoßen. So schreibt Steve Lake im Juni 1984 im Musikexpress: „Das letzte Stündlein des Techno-Pop hat scheinbar geschlagen; die Synthi-Freaks stehen mit dem Rücken zur Wand. Warum das passieren musste? Nun, zunächst einmal ist so ein Synthesizer ein extrem langweiliger Anblick. Ein fantasieloses Stück Büro-Equipment. Du kannst als Musiker deinen Haarschnitt ändern, Make-up tragen, Klunker ans Ohr hängen … hilft alles nichts. Wer Synthesizer spielt, sieht aus wie eine Schreibkraft. Oder gar wie ein Journalist. Eine Gitarre ist dagegen einfach schön. Sie hat die Formen einer Frau und reagiert auf Berührung. Mit einer Gitarre kannst du dich bewegen, mit einem Synthi bist du an deinen Platz gefesselt. Es ist der Unterschied, frei zu sein – oder Sklave der Maschine. Der Synthesizer beherrscht dich, die Gitarre befreit dich.“

Tatsächlich wird sich in der synthetischen Musik aber das Erbe Giorgio Moroders durchsetzen: Synthie-Pop und (Italo-)Disco mischen sich zu Euro Disco, Euro Disco wird zu Hi-NRG. House kommt. Techno. Wir kennen die Geschichte. Sie wäre ohne Synthie-Pop nicht möglich gewesen. Und wir kennen natürlich auch die Geschichte der Pet Shop Boys, die formal durchaus als Synthie-Pop-Act gelten könnten, aber auf dem Mischverhältnis ihres Hybridsounds, in dem der Dance-Anteil niemals zu klein wird, eine nahezu trendresistente Weltkarriere begründeten.

Wie geht es aber nun weiter mit dem Genre, wenn es doch nicht mehr weitergeht? Kleine Hit-Nachzügler wie „Sweet Harmony“ von The Beloved rutschen den Neunzigern nur noch zufällig heraus. Allerdings haben sich ab Mitte der Achtziger in den langen Schatten der sogenannten Schwarzen Szene Gleichgesinnte gefunden, die ihren Vorbildern aus Synthie-Pop, New Wave, Industrial, Electronic Body Music u.ä. Tribut zollen wollen. Und obwohl in funktionierenden Subkultur-Zirkeln beheimatet, reicht der Erfolg von Gruppen wie Wolfsheim, Deine Lakaien, De/Vision oder Project Pitchfork gerade im seltsam dunkel-romantisch veranlagten Deutschland bald auch in den Mainstream hinein.

„Und dann gab es ja noch diese Mini-Bewegung: ,Romo‘ – in Großbritannien, mit Bands wie Orlando oder Sexus … war allerdings dann doch eher so eine Journalisten-Erfindung“, wirft Kollege Thomas Weiland noch ein. „,Romo‘? Ehrlich gesagt noch nie davon gehört, Thomas.“

Was schon besser in Erinnerung bleibt: Eklektizisten wie Beck, Stereolab, Broadcast und auch die Postrock-Gilde aus Chicago rund um die Band Tortoise entdecken im Lauf der Neunziger den kraftvollen Sound analoger Synthesizer neu für sich. Für ein Comeback des Synthie-Pop allerdings ist erst die nächste Generation bereit – die Kinder der 80er-Jahre. Anfang des neuen Jahrtausends wird er als Erstes von Überzeugungstätern wie Stuart Price (Zoot Woman) und dem Liverpooler Quartett Ladytron wiederaufgeführt, aber auch die Retro-Stile Electroclash und Dancepunk beziehen sich ausdrücklich auf Gary Numan und Co. Die Anfänge eines 80s-Revivals, das bis heute ungeahnte Kreise zieht

Vierte Szene, Juni 2010: Die Abendsonne taucht die Other Stage in warmes Orange. Man sieht der Band MGMT dabei zu, wie sie die Unordnung, die sie während ihres bisherigen, reichlich psychedelischen Auftritts angerichtet hat, ein wenig aufräumt. Der barfüßige Andrew VanWyngarden knöpft sich noch den obersten Knopf seines Bunte-Blüten-überwuchern-ein-Schachbrett-Anzugs zu. Da erklingt auch schon die Keyboard-Melodie von „Kids“. Das Glastonbury Festival schaltet augenblicklich in den Hopser-Modus. Mädchen in Strandausflug-Garderobe stürmen die Bühne. Alles tanzt zum Indiehit des Jahres 2008. Es ist ein Synthie-Pop-Hit!

Also, noch einmal: Definiere „Synthie-Pop“! Das ist simpel: Das ist Popmusik, die mit Synthesizern gemacht wird.

Seit einiger Zeit wird jedoch unglaublich viel Pop mit Synthesizern gemacht. Oder eben mit Hard-und Software, die den Sound der Originale imitieren. Manche Song von Robyn, Lady Gaga, Ellie Goulding, Ladyhawke, Killers, Cut Copy, Passion Pit und wie sie alles heißen, sind beinahe mit zu viel Synthesizer gemacht. Sie scheinen schon links und rechts aus den Songs herauszuhängen. Doch wer das nicht hören will, muss ja nicht. Der lässt vielleicht lieber noch einmal den gefeierten „Drive“-Soundtrack laufen: Synthie-Pop, eindeutig – allerdings ganz die aufgeräumte, anmoroderte 80s-Schule. Oder er amüsiert sich mit einem oder über einen wie den Bastler Seth Haley alias Com Truise, für den der Sound gar eine Art Fetisch zu sein scheint. Oder er entscheidet sich für die Verschleierungstaktik des Chillwave. Der Oders gibt es ja so wunderbar viele.

Wie bei so vielen Genres fragt man sich allerdings inzwischen: Wo fängt Synthie-Pop an, wo hört er auf? Und wie sinnstiftend sind solche Grenzpatrouillengänge überhaupt noch? Geht es vielleicht einfach nur darum, sich an etwas festhalten zu können? Dann hätten wir da was. Nämlich die einfachste und deshalb zwingendste Definition von Synthie-Pop, die immer noch zu haben ist: Synthie-Pop ist die Musik, die Depeche Mode gerade so machen.