Tour-Tagebuch

Auf Tour mit Tocotronic – Tag 9, Hannover: Kurz vorm Höhepunkt in der großen Freiheit auf der Reeperbahn


Tammo Kasper, eigentlich Bassist der Band Trümmer, ist mit Ilgen-Nur als Support von Tocotronic unterwegs. Hier schreibt er sein Tour-Tagebuch für uns. Heute: 13. März, Hannover. Diesmal mit der Hannoveraner Autogrammkarten-Gang.

14. März 2018, Hannover – Zu viel von den guten Dingen lässt dich vergessen, wie gut sie sind. Heute Tocotronic in Hannover. Langsam kann ich die Songs nicht mehr hören, denke ich manchmal. Man stumpft so seltsam ab, durch die ständige Wiederholung der immer gleichen Situationen an unterschiedlichen Orten wird man langsam aber sicher zu einem Roboter, zu einer stumpfsinnigen Maschine, die schlechte Witze macht und statt Nachrichten auf dem Telefon zu lesen lieber aus dem Busfenster starrt und anfängt, die Leitpfosten zu zählen. Irgendwo bei 630 höre ich auf.

Hannover ist stadtgewordener Durchschnitt: Scorpions, Schröder, AMD, Wulf, Hannover 96, Martin Kind, Expo2000, Sumpf, Sumpf, Sumpf.

Auf Tour mit Tocotronic – Tag 8, Köln: Köln muss in Flammen stehen
Als wir in Hannover ankommen, steht die Hannoveraner-Autogramm-Karten-Gang schon vor dem Club. Das ist ein Geschäftsmodell: Bei jedem Konzert in Hannover stehen die drei vor der Tür und warten auf die Künstler, um sich ausgedruckte Fotos unterschreiben zu lassen. Das ist wie mit Aktien handeln: Sie wetten darauf, dass sie die Karten irgendwann zu hohen Preisen bei Ebay verticken können. Irgendwo müssen die eine Lagerhalle haben voll mit Autogrammen gescheiterter Künstler, wahrscheinlich irgendwo dort, wo die Scorpions ihre Backline lagern, im Keller von Gerhard Schröders Ferienhaus in der Ausfallstraße zum Hannoveraner Airport oder bei den Hells Angels im Rotlichtviertel, das hier einen halben Block groß ist.

Es tut mir leid, das zu sagen, aber: Ich kann Stadt nicht leiden. Hannover ist stadtgewordener Durchschnitt: Scorpions, Schröder, AMD, Wulf, Hannover 96, Martin Kind, Expo2000, Sumpf, Sumpf, Sumpf. Aber die Leute hier sind toll. Und das Capitol ein schöner Laden. Direkt neben dem Ihme-Zentrum, einem megalomanen Wohnbauprojekt, das geschätzten 40.000 Wohnungen beherbergt, liegt der altehrwürdige Club am Ufer der Ihme.

Am 13. März traten Ilgen-Nur und Tocotronic in Hannover auf. Tammo Kasper berichtet davon.

 „Letztes Jahr im Sommer“: Letzter Song im ersten Zugabenblock. Ein Beweis für das, was diese Band in 90er Jahren berühmt gemacht hat: Ein einfacher, beinahe naiv-melancholischer Text, verzerrte Wandergitarrenakkorde (das ist vielleicht auch der große Unterschied zum US-Grunge da spielte man ja ganz vornehmlich Powerchords, also bloß Grundton und Quinte, keine Terz) und ein Refrain, der sich einfach gut mitschreien lässt. Das machen die Leute auch. Jeden Abend. Und manchmal haben sie dabei sogar Tränen in den Augen.

Der Höhepunkt des ersten Tourteils steht erst noch bevor: Drei ausverkaufte Konzerte in der großen Freiheit auf der Reeperbahn.

Die-Hard-Fan Steve fand es heute gut. Besser als in Köln. Die Leute seien mehr aus sich raus gegangen, die Stimmung sei besser gewesen und die Ansagen lockerer. Ich kann das inzwischen gar nicht mehr so richtig bewerten und freue mich, dass er nach wie vor so eine dezidierte Meinung hat. Mich erinnert das ein bisschen an meine Zeit als Regieassistent am Wilhelmshavener Theater: Du siehst jeden Abend die gleiche Aufführung und am Ende kannst du gar nicht mehr beurteilen, was eigentlich passiert. Sondern musst dich auf die Publikumsreaktionen verlassen. Das Showgeschäft ist hart.

Nach dem Konzert in Hannover fahren wir zurück nach Hamburg. Morgen ist Offday. Erstmal Wäsche waschen. Ausschlafen. Acht Tage on the road sind vorbei. Dabei steht uns der Höhepunkt des ersten Tourteils erst noch bevor: Drei ausverkaufte Konzerte in der großen Freiheit auf der Reeperbahn. Alle fragen sich seit Tagen, wie das so wird: drei Tage lang im gleichen Club. Was macht das mit dem standarisierten Tagesablauf? Sollen wir uns schon morgens treffen und mit dem Bus drei Stunden lang im Kreis durch die Stadt fahren? Bleiben Sie dran!

Tammo Kasper