Kolumne

Jan Müller findet: Bei J Mascis treffen sich Logik & künstlerische Freiheit


In seiner „Reflektor“-Kolumne erzählt Jan Müller von seiner 35 Jahre anhaltenden Dinosaur-Jr-Liebe.

1988

Dinosaur Jr.? Noch nie gehört! Unser „Spex“-lesender Freund Marco aus Münster war Arne und mir voraus. Er schleift uns mit zum Konzert. Stempel abdrücken. Ehrensache. Was ich an diesem Oktober-Abend in der Hamburger Markthalle erlebe, fasziniert und verstört mich. Gitarrenkrach und Melodien. Wildheit und Lässigkeit. Zwischen den Songs erklingt Noise von Tape-Loops. Keine Ansagen, die Gesichter der Musiker sind von langen Haaren verdeckt. Die Bühnenshow ist frei von irgendwelchen Machogehabe. Kein Muckigepose, keine Sportveranstaltung. Da ich von den Punk-Konzerten, die ich sonst besuche, eine politische Message gewohnt bin, suche ich sie auch hier. Vergeblich. So ganz bereit bin ich für so viel Freiheit noch nicht. Trotzdem, ab sofort finde ich Dinosaur Jr. super!

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1993

Wie so oft betrete ich den Schallplattenladen Michelle Records in der Hamburger Innenstadt. Anders als heute, wo jeder/r bei Michelle hervorragend beraten wird, war die Arroganz der Michelle-Plattenverkäufer damals legendär. In dem Geschäft saß auch der supercoole Wolfgang Brosch hinterm Tresen. Der war sogar immer recht freundlich. Aber trotzdem umstrahlte ihn eine Aura, die zumindest mir suggerierte: „Sprich mich nicht an!“

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Als ich das Geschäft an diesem Nachmittag betrete, läuft Musik, die ich sofort als Dinosaur Jr. identifizieren kann, obwohl ich die Songs nicht kenne. Es ist das neue Album WHERE YOU BEEN, welches ich mir sofort kaufe. Ab sofort und für alle Zeiten ist es mein Lieblingsalbum der Band. Dieses Album zu präferieren, ist vermutlich eine Mindermeinung. Die Spezialisten würden eines der beiden SST Alben BUG (mit dem Sucker-Slacker-Hit „Freak Scene“) oder YOU’RE LIVING ALL OVER ME empfehlen. Und die Super-Profs empfehlen das selbstbetitelte Debüt von 1985.

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Mein Dinosaur-Jr.-Album aber ist WHERE YOU BEEN. Die Veröffentlichung fällt ins Gründungsjahr von Tocotronic und die Musik trifft genau mein damaliges Lebensgefühl: Gelassen, jedoch mit leichter Melancholie. Ein wenig beschädigt, eingeigelt und dennoch sehr laut 1997 Endlich habe ich Gelegenheit, Dinosaur Jr. wieder live zu sehen. Sie spielen wieder in der Markthalle.

Welches Equipment verwendet eigentlich… J Mascis?

Hinter J Mascis stehen drei riesige Marshall-Türme. Aber anders als bei Metalbands, die aus optischen Erwägungen mit Attrappen arbeiten, sind hier tatsächlich alle Verstärker in Betrieb. Vor seinen Füßen sind unzählige Effektgeräte platziert. Ich stelle mich nach vorne. Mir fällt auf, wie brutal laut die Gitarre ist. Manchen im Publikum gefällt das nicht so gut. Einer beschwert sich zwischen zwei Songs per Zwischenruf. Man verstünde den Gesang nicht. Im ruhigen Tonfall erklärt J Mascis, dass es eben für ihn so zu sein habe. Wenn er mehr vom Gesang hören wolle, dann müsse er weiter nach hinten gehen. In seinen Worten treffen sich klare Logik und künstlerische Freiheit.

2000

Wir spielen mit Tocotronic in New York in dem kleinen Club Voxhall. Uwe Viehmann vom „Spex“ ist auch vor Ort. Und er ist mit J Mascis befreundet. Da Dirks Geburtstag ist, hat er einen genialen Plan ausgeheckt. Zum passenden Song soll J überraschend die Bühne betreten und ein Solo spielen. Welch schöneres Geschenk kann es geben, denken sich auch Arne und ich.

J Mascis covert Elliott Smiths „Waltz #2“ - in einer ganz eigenen Version

Beim Soundcheck wundert sich Dirk ein wenig über den zusätzlichen Verstärker, der auf der Bühne rumsteht. Da Dirk sich für Technik wenig interessiert, können Arne und ich ihn mit fadenscheinigen Begründungen beschwichtigen. J kommt dann während des Konzerts auch tatsächlich genau beim richtigen Song auf die Bühne. Allerdings funktioniert der Spezialverstärker nicht und Dirk wundert sich nur ein wenig über den Langhaarigen mit der Gitarre, ohne ihn als J Mascis zu identifizieren. Ich denke, wie gut, dass dieser legendäre Mascis sich dafür hergibt, für irgendeine ihm vermutlich völlig unbekannte Band einen Überraschungsauftritt zu absolvieren. Dabei ist er genau das Gegenteil eines Menschen, der sich in den Vordergrund drängt.

2023

Wir spielten beim Rolling Stone Beach Festival an der Ostsee. Direkt nach uns auf der gleichen Bühne: Dinosaur Jr. Um kurz nach 23 Uhr betreten sie die Stage. Seit 2005 spielen sie wieder in Originalbesetzung. Mir fällt auf, was Lou Barlow für ein außerordentlicher Bassist ist. Er spielt noch genauso wild wie 1988 in der Markthalle. Sein Spiel ist sehr akkordgeprägt. Er ist ein Gitarrist mit vier Saiten. Ich bin beeindruckt.

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J Mascis hat wieder drei Marshall-Türme im Rücken. Wenn er einen seiner zahlreichen Verzerrer anschaltet, ist seine Gitarre doppelt so laut wie der Rest der Band. Ich finde das geil artifiziell und ganz wundervoll. Neben mir beschwert sich ein Zuhörer. „Das klingt schlimm!“ Ich entgegne ihm: „Das ist doch toll!“ Erbost schreit er mich an: „Du Idiot, du hast doch keine Ahnung!“ Nun ja. Ich schaue auf meine Uhr. In fünf Minuten startet unser Nightliner nach Wien. Dinosaur Jr. spielen „Out There“, meinen Lieblingssong. Als er zu Ende ist stolpere ich hinaus in die Nacht und renne glücklich zum Bus.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 2/2024.