Cortez‘ Kinder


In Mexico City gehen die Uhren anders. Zwar sind mehr als die Hälfte der 19 Millionen Einwohner unter 25 Jahren, doch eine eigenständige Jugendkultur hat es hier nie gegeben. Rockmusik heißt Revolution — und die fürchten die Obrigkeiten wie der Teufel das Weihwasser. Seit dem spanischen Eroberer Cortez wird Mexiko mit harter Hand regiert — in den Slums aber beginnt es zu brodeln. Bertil Hakansson besuchte die Punks am Popocatepetl.

Sie ist klein, ihre Haare sind lang und blauschwarz. Ein strahlendes Lächeln erhellt ihr dunkelbraunes Gesicht. Sie ist sehr schön, meine ich jedenfalls. In ihrer Umgebung aber sind sie anderer Ansicht. Hier ist Schönheit: helle Hautfarbe und lange Beine.

„Mich rühren sie nicht an“, sagt Lucia und wirft einen Blick durchs Fenster. Ein Polizeiauto mit heulenden Sirenen rast am Haus vorbei. Insurgentes („Aufruhr“) heißt die Straße. Sie soll die längste Straße der Welt sein; einer von den vielen Weltrekorden in dieser wahnsinnigen Stadt.

Lucia ist 24 Jahre alt. Sie wohnt mit Freund Carlos und seiner Familie weit draußen in den Slums des Vororts Las Aguilas. Sie sind nicht verheiratet; eigentlich ein Schlag ins Gesicht der mexikanischen Moral. Andererseits ist Carlos‘ Mutter ja auch nicht verheiratet. Und ihr ehemaliger Mann hat Kinder mit der eigenen Schwester. Das wissen alle, aber niemand sagt etwas. Die doppelte Moral steht in Mexiko halt auf der Tagesordnung.

Vor einem Jahr siedelte Lucia nach Las Aguilas über. „Anfangs war es schwer, jetzt aber haben sie mich akzeptiert.“ „Sie“, das sind „Las Bandas“, die unzähligen jugendlichen Gangs, die in den Slums vor Mexico City wie Pilze aus dem Boden sprießen.

Ich bestelle zwei Bier und einige diabolisch scharfe Enchiladas, während Lucia von den Schlägereien der „Bandas“ erzählt. Von den Razzien. Von den Pfiffen, die sich von Haus zu Haus verbreiten, wenn die Polizei mit ihren Maschinengewehren und Überfallkommandos anrückt. Von der Arbeitslosigkeit. Von den Drogen. Von der Rockmusik…

„Sie sind alle Rockanroleros“ (Rockmusiker), sagt sie. Rockanrolero. Das Wort selbst ist immer noch ein Stein des Anstoßes in Mexiko. Mexikanische Rockmusik war lange Zeit praktisch illegal. Erst während der letzten zwei Jahre haben die Repressalien em wenig nachgelassen; langsam keimt der Ansatz zu einer einheimischen Rockszenerie.

In den Clubs und Discotheken der „Zona Rosa“, dem Vergnügungsviertel also, ist „Rock mexicano“ noch immer tabu. Das Zentrum der mexikanischen Rockmusik ist weit von den mondänen Boulevards und den riesigen Wolkenkratzern aus Glas und Stahl entfernt. „Rock mexicano“, das heißt Armut und Polizei-Brutalität, das sind endlose Müll-Deponien und Gegenden, wo asphaltierte Straßen und fließendes Wasser Luxus sind. Wo Rudel wilder Hunde nachts umherstreifen, wo immer neue Zuwanderer vom Lande ihre Schuppen aus Wellblech und Pappe bauen. „Hoyos fonkys“ werden diese Plätze in den Elendsvierteln genannt.

„Oye guero, wenn du willst, kann ich dir Kontakt zu Alejandro Lora vermitteln, dem Bassisten in El Tri, der besten Band Mexikos.“ Er scheint höchstens 13 Jahre alt zu sein; klein und mit unschuldigen, CORTEZ‘ KINDER

doch etwas glasigen Augen. Auf seinem T-Shirt steht mit großen Buchstaben: „Me vale madre“ („Da scheiß ich drauf). Im Mund hat er eine Klebstofftube.

Um seine Lippen spielt ein seliges Lächeln, als er in der Menge untertaucht. Ich bleibe allein in einer Hölle aus Schmutz, Schweiß. Drogen und Rockmusik zurück — wohl der einzige Weiße, der sich je in dieses „Hoyo fonky“ verirrt hat.

Von meiner Wohnung im Zentrum bin ich unendlich weit entfernt. Die Häuser sind verfallen, zottige Hunde streifen umher und scharren unter dem Müll längs der Straßen, die eigentlich nicht verdienen. Straßen genannt zu werden.

Meine Eintrittskarte kaufte ich in der Nähe eines Schrottplatzes voll verrosteter Straßenkreuzer aus den 50er Jahren. Die „Halle“ ist ein schmutziger Hinterhof, von hohen Mauern umgeben. Über der Bühne hängt ein Stück Wellblech, mit zwei Stierhörnern und einem Bündel Knoblauch geschmückt.

Hunderte von dunklen Augen schauen mich an. Was zum Teufel macht ein Pinche Gringo in ihrem Hoyo? Um meine Unsicherheit zu kaschieren, lasse ich mich mit einigen Jungs am Eingang ein.

„Mach um Gottes willen keine Fotos, wenn du nicht willst, daß man dir den Schädel einschlägt“, sagen sie, nachdem ich erklärt habe, daß ich gar kein (amerikanischer) Gringo sei, sondern ein schwedischer Journalist.

In diesem Moment tritt Alto Voltaje auf die Bühne.

Die Augen wenden sich von mir ab, ich kann aufatmen. „Willkommen alle in La Banda aus San Simon“, brüllt er und läßt eine schwere, lärmende Rockmusik tos, die aus scheppernden Lautsprechern gegen die Sterne aufsteigt. In der Ferne kann man die Lichter eines Flugzeuges ausmachen, das von Mexico Citys Flugplatz abhebt, Lichtjahre von dieser Wirklichkeit entfernt.

Immer mehr Leute drängen auf den Hof, das Tanzen wird wilder. Ich sehe wenigstens 15 Jungs, die — kleine Plastikflaschen gegen ihre Nasen gedrückt — wie verrückt tanzen.

„Sie nehmen weder Mota (Marijuana) noch Alkohol. Sie schwören auf den verdammten Klebstoff, sagt einer neben mir. Er trägt Kriegsbemalung und hat eine Sicherheitsnadel am Ohr, um den Hals ein Hundehalsband und ein großes Holzkreuz. Ein Punker der dritten Welt. Sein Name: Jesus.

Mit achtjähriger Verspätung ist die Punkmusik in die Slums von Mexico City gelangt. Hier hat es nie eine eigentliche Jugendkultur gegeben. Eltern und Kinder lebten unter denselben katastrophalen Verhältnissen.

Heute ist es anders. Jung zu sein, ist nun ein spezifisches und verbindendes Merkmal. Die meisten Jugendlichen im Slum sind arbeitslos; sie haben nie Arbeit gehabt und werden wohl nie Arbeit bekommen. „La Banda“ hat vielen die Familie ersetzt.

„La Banda und Rockanrol machen das Leben erträglich“, sagt Jesus und brüllt plötzlich laut auf. Der Grund: El Tri klettern auf die Bühne. Ihre Musik ist kein Punk; sie spielen traditionellen Bluesrock mit spanischen Texten. El Tri ist Mexikos älteste Rockgruppe und immer noch eine der beliebtesten Bands.

„Unsere bekanntesten Songs würden wir nie hier spielen dürfen, auch nicht im Rundfunk“, sagt Alejandro Lora, der Kopf der Gruppe, eine Woche später, als ich ihn im Studio der Fernsehgesellschaft Televisa erneut treffe. El Tri wird in einem der ersten Programme über einheimische Rockmusik im mexikanischen Fernsehen mitwirken.

Das Publikum ist in zwei Lager gespalten. Teils sind es die Jungs aus „Las Bandas“ mit ihren zerrissenen T-Shirts und Zöpfen im Nacken, teils modebewußte Menschen aus dem Mittelstand, die Arturo Vásques sehen wollen, den letzten Stern am mexikanischen Kaugummipophimmel.

„Fresa, fresa“ (eigentlich Erdbeere, sinngemäß aber Schafskopf), rufen „La Banda“ im Chor, als Arturo auf die Bühne klettert. Er tragt eine Leopardenhose und eine lächerliche grüne Brille.

Der Produzent versucht verzweifelt, ein wenig Stimmung für Väsques zu schaffen. „Mas ánimo, mehr Leben, volle Pulle, schneller“, ruft er immer wieder und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Stimmung kommt aber erst auf, als El Tri die Bühne betritt. Plötzlich kocht die Tanzfläche.

Tri ist eine Abkürzung für Trabajadores Rockanroleros Incomprendidos (mißverstandene Rockarbeiter). Die Band begann schon 1968 — in jenem Jahr also, als in Mexico City die Olympiade stattfand, in jenem Jahr, als die Polizei in der Nähe der Plaza de las Tres Culturas kaltblütig auf mehrere tausend junge Demonstranten schoß.

Drei Jahre später hatten El Tri ihren Durchbruch. Der Ort: das Rockfestival in Avándaro, Mexikos Woodstock. Vor Avándaro waren es vorwiegend Jugendliche des Mittelstandes, die Rockmusik hörten. Als die Doors 1969 in Mexico City spielten, kamen vor allem Studenten, die Englisch studiert oder Stipendien in den USA erhalten hatten — gutgestellte Sprößlinge, die San Francisco besucht und sich die Hippies angeschaut hatten. In Avändaro aber war erstmals auch die Jugend aus den Slums Mexico Citys vertreten; mehr als 200.000 Menschen drängten auf den Platz. Hier wurde die mexikanische Rockmusik geboren, hier entdeckten los Rockanroleros ihre eigene Sprache — Spanisch.

Nach Avändaro kam aber auch die Polizei. Sie kam zu Hunderten und verhaftete Tausende. Die Konfrontation war brutal und schmerzhaft. Die mexikanische Rockmusik, kaum daß sie geboren war. war schon wieder am Ende.

Allein Carlos Santana. der einzige mexikanische Rockstar, erhielt die Genehmigung. 1976 in der Stadt Pucbla zu spielen. Danach wieder Stop. In jüngster Zeit haben Police, Chicago, Deep Purple, Alice Cooper und einige andere Gruppen Mexico City besucht: dennoch ist in der größten Stadt der Welt mit knapp 19 Millionen Einwohnern internationale Rockmusik Mangelware.

Dabei ist das Interesse beim Publikum enorm. Alle wissen das. Zehn Millionen Menschen in der Stadt sind unter 25 Jahren! Das Problem ist. daß die Behörden so selten die Genehmigung erteilen. Die Rolling Stones etwa sind schon mehrfach abgewiesen worden.

Nach Avándaro begann El Tri in den Vororten zu spielen. „Hoyos fonkys“ entstanden an vielen Stellen — trotz der brutalen Unterdrückung. Immer mehr Bands wurden gegründet, eine mexikanische Musik-Szene begann langsam zu wachsen. Die polizeilichen Verfolgungen, der Mangel an finanziellen Mitteln und die widerwärtigen Verhältnisse in „los Hoyos fonkys“ machten die Rockmusik roh, schmutzig, rebellisch. „Es gibt viele Rockbands in Mexiko heute“, sagt Alejandro Lora. „Ungefähr 20 haben ein akzeptables Niveau. Das Problem der meisten sind die Instrumente: Es ist schwer, gute Sachen aufzutreiben. Wir spielen fast alle auf Contrabando‘ (Schmuggelwaren).“

Während all dieser Jahre sind El Tri von Rundfunk und Fernsehen praktisch verbannt gewesen. Ihr Image gilt als anstößig, die Texte sind oft politisch und enthalten häßliche Worte. Trotz der Stille im Äther gibt es in Mexiko kaum junge Menschen, die die Band nicht kennen. Die meisten können Songs wie „Renuncio, yo no quiero trabajar“ (Ich kündige, ich will nicht arbeiten) mitsingen. Warum diese unnachgiebige Haltung der Behörden?

„Die Jugend in Mexiko ist immer unterdrückt worden. Und die Rockmusik ist das Symbol der Jugend. Wenn Rockmusik eine Angelegenheit der Regierung wäre wie der Fußball, liefe alles ganz anders. Bei den Fußballspielen werden Autobusse ausgeraubt, Männer vergewaltigen Frauen, ziehen sich nackt aus und betrinken sich — und die Zeitungen schweigen darüber. Aber wenn so etwas bei einem Rockkonzert passiert —- Puta Madre …“

Sie heißt Chela Branitt und arbeitet in der einzigen Firma, die eigenständige mexikanische Rockmusik unterstützt. Neben El Tri arbeitet die Firma mit Ritmo Peligroso, Luzbel, Kenny y los Electricos. Campo Corteea, Mask und

Punto y Aparte. Seit dem Start im Jahre 1983 hat man fünf Alben veröffentlicht, die Rockzeitung Comrock gestartet und eine gemeinsame Tournee durch das Land organisiert — übrigens die erste Rock-Tournee in der Geschichte Mexikos.

„Spätestens 1986 wird die mexikanische Rockmusik groß werden“, sagt Chela mit einem siegesbewußten Lächeln. „Die Leute haben es satt, amerikanisches Hitparaden-Futter zu hören, von dem sie obendrein kaum eine Zeile verstehen. Wenn die Regierung nicht wieder der Rockmusik Daumenschrauben anlegt, wird die Entwicklung sehr schnell gehen.“

Chela meint, der Grund für die Unterdrückung der Rockmusik in Mexiko sei bei der Regierungspartei PR1 zu finden. „Sie haben Angst vor allem, was mit Jugend und Jugendkultur zu tun hat. Sie haben Angst davor, daß junge Menschen zu zweifeln und selbst zu denken beginnen. Ich weiß nicht, ob die PRl den Rundfunkanstalten ans Herz gelegt hat, keine mexikanische Rockmusik zu spielen. In jedem Fall indirekt: Die Sender wurden in englische und spanische aufgeteilt. Die englischen übernehmen die Rockmusik — d.h. die amerikanische. Und die spanischen spielen Balladen, schmachtende Melodien und traditionelle mexikanische Musik. Bei dieser Aufteilung gibt es natürlich keinen Platz für spanisch-sprachige Rockmusik! Folglich sind mexikanische Gruppen gezwungen, englisch zu singen, um in ihrem eigenen Land gespielt zu werden!

In Argentinien nahm übrigens die einheimische Rockmusik während des Falklandkrieges einen enormen Aufschwung. Die Militärjunta verbot jegliche englischsprachige Musik in den Medien. Das war praktisch der Anfang einer eigenständigen Musikszene. „

Die Gruppe, der bei Comrock offenbar die größten Chancen eingeräumt werden, auch internationalen Erfolg zu erzielen, ist Ritmo Peligroso. Piro, Sanger und Songschreiber der Band, empfängt mich zu Hause in der eleganten Wohnung seiner Eltern, nicht weit vom luxuriösen Hotel Camino Real.

Die Band begann als reine Punkband. Sie sangen englisch und taten ihr Bestes, um möglichst ähnlich wie Clash zu klingen. Heute spielen Ritmo Peligroso etwas, das sie selbst als „Nueva Ola Latina“ (lateinische neue Welle) bezeichnen. Eine politische Orientierung gibt es nicht. Im Prinzip sagt Piro in seinen Texten, daß die dritte Welt ihre Probleme vergessen soll, um statt dessen zu Rockmusik zu tanzen.

Ich verlasse Piros flottes Haus und gehe durch den riesigen Chapultepec-Park. Auf einer Bank sitzt ein alter Mann mit seiner Badezimmerwaage. „Wiegen Sie sich! Zehn Pesos!“ ruft er und nickt mir auffordernd zu. Der Erfindungsreichtum ist ebenso groß wie die Armut in diesem sonderbaren Land.

Der musikalische Erfindungsreichtum ist da ein wenig beschränkter. Die meisten Bands spielen traditionellen Bluesrock. Heavy Metal ist auch hier auf dem Vormarsch. Es gibt einige Punkbands, die ungefähr klingen wie englische Punker 1978.

Coyoacàn heißt einer der wenigen wirklich schönen Stadtteile in Mexico City. Hier gibt es gediegene Häuser im alten Kolonialstil, malerisch gewundene Straßen mit Kopfsteinpflaster und Parks mit blühenden Palisandern. Leo Trotzki wohnte hier in seiner Verbannung — bis zu jenem Tage, als er von Stalins Agenten kaltblütig ermordet wurde. Die Kugellöcher in seinem festungsähnlichen Haus an der Calle Viena sind heute noch zu besichtigen.

Ein Stück weiter liegt der Club El Cuervo. Dienstag abends kann man hier das ironische Rockprogramm von Botellita de Jerez sehen. „Wir spielen Guacarock“, erklärt Bassist Cucurrucucú und gibt eine lange, verwickelte Erklärung darüber, was Guacarock eigentlich ist: kurz bevor Botellita vor zwei Jahren zu spielen begann, wurde der Untergrund-Poet Palmenes Garcia Saldana auf einem Dachin Mexico City tot aufgefunden. Der letzte Artikel, den er schrieb, handelte von der mexikanischen Rockmusik. Als grob, plump und ungeschliffen charakterisierte er sie und erklärte, daß die Mexikaner Rhythm & Blues mit Avocado mischen und so eine Rockmusik mit starkem mexikanischem Geschmack bekommen. Avocado ist bekanntlich Hauptbestandteil eines mexikanischen Gerichtes, das Guacamole heißt.

„Als eine Huldigung an Saldana beschlossen wir, es mit einer Mischung von Guacamole und Rock zu versuchen“, fährt Cucurrucucú fort. „Wir haben immer die traditionelle mexikanische Ranchero-Musik und los Mariachis mit ihren großen Sombreros und schmachtenden Stimmen geliebt. Gleichzeitig sind wir mit Rockmusik aufgewachsen. Eine hemmungslose Mischung aus diesen Ingredienzen mit Schwerpunkt Rockmusik, das ist Guacarock. „

Als ich früh am Morgen aus El Cuervo heraussteige, hat es schon zu dämmern begonnen; es scheint ein‘ schöner Tag zu werden. Sogar den Vulkan Popocatepetl kann man in der Ferne undeutlich erkennen — ein Orientierungspunkt in einer unüberschaubaren Welt.

Ich glaube schon, daß die Rockmusik in Mexico City eine Zukunft hat. Die Frage ist nur, ob Mexico City eine Zukunft hat…