Die Tonmischer


Mit Sublabels in verschiedensten Genres ist die Vielklang Musikproduktion in Berlin eine der aktivsten Plattenfirmen der Republik.

Wie Sonnenblumen strecken die Satellitenschüsseln in Kreuzberg ihre gleichgerichteten Köpfe in den Himmel, am Straßenrand liegt Sperr- und Restmüll. Verwirrte Aktivisten und Propheten treiben sich hier herum, Grafmislogans zieren die verblichenen Wände der Häuserblocks: „Zusammenlegung der Hungerstreikenden“, „Tag B kommt“ et cetera. Inmitten einer der sozialen und politischen Brennpunkte Berlins residiert Vielklang. Trotz der wenig ansprechenden Fassade verbirgt sich in den Kreuzberger Hinterhöfen oft ideales Bürogelände. Ähnlich einem New Vorker Loft ist das Labyrinth aus Gangen, Arbeitsnischen, Aufnahme- und Produktionsstudios, in dem lörg Fukking und Matthias „Matzge“ Bröckel das vielleicht flexibelste und wendigste Label der Republik leiten, lind obwohl die Business-Ideologie zunächst undurchsichtig scheint, verfolgen die beiden Chefs ein cleveres Konzept: Bewusst haben Jörg und Matzge über die letzten 17 lahre in Kauf genommen, dass das ’83 gegründete Mutterschiff Vielklang etwas blass und gesichtslos geworden ist, während die beiden ein credibles und charakterstarkes Sublabel nach dem anderen installierten. „Hin imagetreues Labelprofil ist für ein Nicht-Majorlabel unheimlich wichtig“, erklärt lörg die Strategie. „Ein Ska-Pan will nicht, dass auf seinem Lieblings-Label plötzlich eine Gitarren-Platte und dann lazz veröffentlicht wird“. Erproben konnie man die Taktik erstmals 1987, als lörg in Berlin die Morgendämmerung des Techno-Booms erlebte und zufällig an den D und Produzenten Westbam geriet. Schnell und unkompliziert gründete er Low Spirii als homogenes Techno-Tochterunternehmen von Vielklang und veröffentlichte darüber hinaus erfolgreich Dance-Produktionen. „Ein Sublabel war die naheliegendste Entscheidung, da Westbam damals nicht zu Vielklang gepasst hätte. Wir hatten Vielklang 1983 als Fun Punk-Label gegründet, um unsere Idee vom ’20 Schäumende Stimmungshits‘-Sampler zu verwirklichen“, so )örg. Für die Aufnahmen lud man damals einige Ulk-Bands ins Studio ein – darunter so namen- und vertragslose Combos wie Die Arzte und Die Tangobrüder, wobei letztere später als Die Toten Hosen Geschichte schreiben sollten. Der Erfolg der LP war akzeptabel, die beiden jungen Geschäftsmänner fassten Mut und banden Die Ärzte vertraglich an Vielklang. Erst neulich entdeckte Matzge begeistert das küchentablettgroße Achikanal-Mischpult von den ersten Arzte-LPs unter einem I laufen Gerumpel. Als Symbol für den visionären Unternehmergeist schmückt es jetzt sein Büro. Analog zu Low Spirit lief es dann auch mit den anderen Sublabels: Als Ska-Experte befand Matzge Ende der 80er die Zeit als reif für High Speed-Reggae und gründete Pork Pie. Mit dem Namen etablierte sich schnell ein glasklares Image: Pork Pie stand bei den Ska-Fans für beste Qualität. Im Vielklang-Studio produzierte Matthias den Reggae-Altmeister Derrick Morgan und bald nahm loe lackson in Kreuzberg eine Platte mit den Toasters auf. Auch City Slang (siehe ME/S 10/99) begann 1991 mit Hole und den Lemonheads als Vielklang-Sublabel, über Megalux werden heute die mittelalterlichen Brachialrocker Subway To Sally und In Extremo produziert, und Nois-O-Lution bietet beispielsweise dem I lipster-Duo No Underground Heimat. „Unser Vielklang-Profil ist zersplittert, aber das ist auch ein Vorteil – so retten wir uns über Trendlöcher hinweg“, meint lörg, der seine Fühler schon wieder in neue Bereiche ausgestreckt hat: Mit „VIP“, der vermutlich ersten deutschen Internet-Marketing-Agentur im Musikgeschäft, promotet er bereits seit Sommer 1999 Künstler wieTricky und Melissa F.theridge auf Online-Ebene, (lin)

NO UNDERGROUND City Boy 443

Robert Defcon und Dr. Phelbs bilden dieser Tage eine der angesagtesten Popformationen der neuen Hauptstadt: No Underground sind in Berlin heftig im Gespräch, auch die restliche Nation wacht langsam auf. Kurioserweise trat das bizarre Duo bislang jeden Mittwoch im alten Stil als „Hausband“ im „Maria“ am Hauptbahnhof auf (was noch öfter zu erleben sein wird, das Engagement gilt „auf Lebenszeit“). Zudem liegt mit „Free Transform“ seit 1999 eine Platte vor, die Großes verspricht. Die Jungs können durchaus klassisch arrangieren, wenn sie wollen. Meistens ziehen sie es aber vor, die netten Popsongs elektronisch zu malträtieren und damit trendsicher wie zeitgemäß zu formatieren.

1UD The Hands 500

Nach der’96er Debüt-CD „Something Better“ und dem semi-akustischen Mini-Album „tnnermission“ lieferten Jud 1998 mit „Chasing California“ eine depressiv-verstörte Auto-Psychoanalyse ab. Manisch und verzweifelt prügeln sich die Westamerikaner durch bleischwere Nummern, malen düstere Goya-Bilder aus der schwarzen Phase und beweisen, dass in Kalifornien nicht alles Sonnenschein ist. „The Hands“auf derCD im ME ist eine klassische Alternative-Ballade .und zeigt Jud von einer großartigen, melancholischen Seite

DAZERDOREAL Pornshop On Elmstreet 5:49

Seit 1995 basteln die vier Koblenzer an Sounds und Songs. Nach jahrelanger Live-Erprobung des Erlkönigs enthüllen sie jetzt ihr erstes Album unter dem Projektnamen Dazerdoreal. Das Werk ist atmosphärisch dicht. Auf der Vorab-Maxi präsentiert das Quartett eine kreative Mixtur aus TripHop, Post-Rock und Elektronik. Über komplexen Arrangements singt Aydo Abay in „Pornshop on Elmstreet“ seine „Explicit Lyrics“. Das Klangbild ist wirr und undurchschaubar, aber nicht überladen.

IN EXTREMO Herr Mannelig4 55

Willkommen im Mittelalter. Für knappe fünf Minuten regieren die Spielmänner aus der Hölle – wer hätte gedacht, dass eine Schalmei so diabolisch klingen kann. Mit gespaltener Zunge blasen und zupfen sich In Extremo mit Dudelsäcken, Harfen und Nyckelharpas durch die Jahrhunderte, erzählen in dem altschwedischen Traditional „Herr Mannelig“ von grausamen Schlachten, bösen Bergtrollen und dem Teufel höchstpersönlich. Erstaunlich erfolgreich waren die „Prenz’lberger“ mit ihrem musikalischen Kreuzzug in diesem Jahr. In Extremo entwickelten sich zu einer häufig gebuchten Festivalband und veröffentlichten ihren mittelalterlichen Heavy-Rock im europäischen Ausland und in den USA.

SUBWAY TO SALLY Böses Erwachen 346

Und gleich nochmal finsteres „Metalalter“ aus der Republik: Auch Subway To Sally sind der Faszination der nebulösen Mitte des vergangenen Jahrtausends erlegen und dröhnen mit Lauten, Flöten, dudelnden Säcken und ähnlich schaurigem Gerät um die Wette. Verflixte sieben Jahre lang war das Septett aus Potsdam auf der Walz‘. Nun aber erklären sie ihre Lehrzeit für abgeschlossen. Mit ihrem neuen Album „Hochzeit“ lieferten sie vor kurzem ein aufwendig produziertes Meisterstück des Brachial-Rockab.

die CD im ME

MR. ED JUMPS THE CUN

Go Gonna Do t 318 Nichts weiter als ein albernes Spaß-Quartett wären Mr. Ed JumpsThe Gun, hätten die Holländer nicht so ein wundersam verquertes musikalisches Talent: Auf „Face Now!“ rappt MC Olly Goolightly wie Dieter Hoeneß, Backgroundvocals einer gewissen Pamela Popo jagen Trompetensoli in Country-HipHop-Stucken und Krankenschwestern duettieren mit singenden Sägen. Mehr Pop und weniger Crossover als bisher liefern die vier Wahl-Berliner auf ihrem aktuellen Long-Player. „Go Gonna Do It“ hätte es mit einem einfachen „Maschen-Draht-2aun“-Sample vermutlich auf Platz l der deutschen Single-Charts geschafft.

HAMID BAROUDI Trance Dance 4:02

Baroudi ist einer der wenigen algerischen Musiker, die beachtliche Erfolge in der westlichen Kunstszene vorweisen können. Im Glam Slam Club in Minneapolis spielte er einst für The Artist mit seiner Band Die Dissidenten auf, für Peter Gabriels WOMAD-Festivals bereiste er England, Spanien und Japan. Baroudi ist verwirrend vielseitig, hat in Kassel Kunst studiert und 1997 mit“Five“ sein zweites Solo-Album vorgelegt. Einerseits bietet es klassische Weltmusik, andererseits liebäugelt es aber immer wieder dank knackigen Funk-Rock-ücks mit dem Genre-Mix aus Rai, Ethno, Techno und Pop.

RADIOTRON Single White Male 423

„Radiotron“ ist zum einen die Typenbezeichnung für eine antike Radioröhre aus den Pioniertagen des Hörfunks, zum anderen das aktuelle Projekt von Nikolai Tomas. Mit der CD „Dangerous Love Songs“ entwickelt der Wahl-Berliner nach der Solo-Platte „Wild On“ seine sonderbar befremdliche Vision von Popmusik weiter. Die Songs sind frostig, trüb wie Milchglas, melancholisch und erhaben. Low Beat nennt man diese Atmosphäre. Die entspannten Tracks verbreiten einen urbanen, zerbrechlichen Charme und sind mitY2Ktauglichen Computerprogrammen und Instrumenten eingespielt.Tomas hat die visionäre Kraft, um zu den bedeutendsten zeitgenössischen U-Musikern Deutschlands zu zählen. Die Dreiteilung seiner künstlerischen Identität in die Projekte Radiotron, Nikolai Tomas und Poems For Laila wirkt allerdings etwas verwirrend.

PROLLHEAD Schlecht im Bett 446

Der Name ist Programm.- Das Hamburger Quintett operiert schamlos im Keller der nach unten offenen Primitiv-Skala. Wie ein betrunkener Westernhagen nach wiederholtem Gehirnschlag grölt sich Andi Schmidt mit seinen Rüpel-Rock-AC/DC-Kopien durch Deutschland. Seit der Single „Rauch auf dem Wasser“ genießen Prollhead in manchen Kreisen einen gewissen Kultstatus. „Schlecht im Bett“ von der CD im ME ist zu finden auf ihrem Vielklang-Debüt-Album von 1994.

BLUEKLLA Lick A Shot 3:07

DasVielklang-Sublabel Pork Pie hat Ska“MadeinGermany“ zu einigem Ansehen verhelfen und gehört neben dem US-lndie Moon Records zu den bedeutendsten Labels dieses kleinen aber extrem resistenten Genres. Bluekilla aus München beschleunigen den Reggae seit ’85, der kurioserweise kahlköpfige Sänger Dr. Dreadlock hat seine präzise und dynamische Combo im 2/4tel Takt schon durch fast alle europäischen Länder getrieben. Bemerkenswerte Bläserarbeit macht „Lick A Shot“ auf der ME-CD zum Ska-Ausnahmetrack.

SPITFIRE Parting 341

Two-Tone-Frohsinn aus St. Petersburg – Spitfire tröten Hardcore-Ska zum Slam-Dancen und „Hut“-Bangen. Mit deutlichem Hang zum Punk steht der Spaß im Vordergrund, das Booklet der aktuellen Veröffentlichung „The Coast Is Clear“ zieren unappetitliche Comics von Drummer Denis, die Songs heißen „Foozball Junkie“ oder „Auto“ (vorgetragen in gebrochener deutscher Sprache). Spitfire sind authentisches Ska-Core-Chaos und haben sich folgerichtig einen Namen im internationalen Business erspielt.

DERRICK MORGAN Conquering Ruler 2:53

Gräbt man beim Ska nach den Wurzeln, stößt man auf den Jamaikaner Derrick Morgan. Er darf den begehrten „Godfather“-Titel in diesem Genre tragen! Mit seinem ersten Hit „Fat Man“ von 1959 beeinflusste er Bob Marley und Desmond Dekker, in seiner Heimat belegte Morgan einst die ersten sieben Plätze der Charts gleichzeitig. Im Juli 1994 nahm Matzge Bröckel für das Pork Pie-Label mit dem Meister (unterstützt von der deutschen Ska-Band Yebo) dessen größte Hits auf. Darunter auch „Conquering Ruler“ von der CD im ME.

UPTIDE Arabia 327

Uptide sind das neue und in der Metal-Welt umstrittene Signing des Vielklang-Sublabels Andromeda. Heftig wird ihr Stellenwert diskutiert: Für die einen sind die Berliner ein müder Goth-Metal-Anachronismus, komplett überflüssig mit „unheimlicher“ Frauenstimme und großen Melodien über schweren Gitarrenriffs, für die anderen sind sie eine der hoffnungsvollsten deutschen Combos, die modernen Heavy-Rock mit Soundgarden-Anklängen bietet. Die Wahrheit liegt schmutzig und meist unbeachtet auf dem schlammigen Pfad der Mitte. Den gebürtigen Iren Liam Cregg, seines Zeichens Sänger der Truppe, tangieren derartige Reflektionen kaum. Er rockt auf dem selbstproduzierten Debüt-Album „RattleThe Cage“ bis die Stäbe bersten.

LETZTE INSTANZ Für Immer und Ewig 4:30

Sieben junge Dresdner verbinden auf ihrem zweiten Album harte und schwarze Klänge mit deutschen Texten. Streicherlastig und symbolschwanger drohen sie mit Feuer und Hölle,Tod und Verderben. Vor gut einem Jahr wechselte das Septett noch den Sänger, mit gestärktem Line-Up tourten die jungen Mannen (das Durchschnittsalter liegt bei 25) jetzt durch die Republik. „Für Immerund Ewig“ auf der CD im ME erzählt von Engeln, Leid und Schmerzen, und donnert mit abgehackten Riffs, Geigen und Crossover-Vocals aus dem Telefon bis der Arzt (oder der Erlöser) kommt.