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Die Vermessung der Sterblichkeit: So klingt Depeche Modes neues Album MEMENTO MORI – Song für Song


Endlich ist es in der Welt, das neue Album von Depeche Mode. Wir durften MEMENTO MORI schon früher hören – und stellen es hier Stück für Stück vor.

Wer schrieb welches Stück? Wie gestaltet Martin Gore seinen Lead-Vocals-Song? Welche Sounds und Stimmungen prägen das Album? Wovon handeln die Texte? Und ist es ein Zufall, dass einem der ein oder andere Songtitel so bekannt vorkommt? Stück für Stück durch MEMENTO MORI – von Martin Gores Einladung, dieses Album wie einen eigenen Kosmos zu begreifen, über Gahans Pop-Moment und ein paar Gore-typische Fanservice-Jokes bis hin zum überwältigenden Finale über den nahenden Tod, sorgt, dass dieses neue Depeche-Mode-Album unvergessen bleiben wird.

1. My Cosmos Is Mine

Ein pulsierender, flirrender Auftakt – in der Chronologie von MEMENTO MORI jedoch das letzte Stück, das Martin Gore für das Album geschrieben hat. Zu dunklen elektronischen Klängen formuliert er seinen Weltschmerz, insbesondere ganz konkret den russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit seinen unzähligen sinnlosen Toten. Gahan gelingt es, mit seinem Gesang die Bedrückung deutlich zu machen, das Stück ist beides: eine Anklage an das Weltgeschehen, aber auch ein Rückzug in die Innenwelt. Der Titel ist daher durchaus trotzig zu verstehen: Mein Kosmos gehört mir – dies ist und bleibt meine kleine Welt!

FAZIT: Auf Weltschmerz folgt die Sehnsucht nach Isolation – gleich zu Beginn ein Schlüsselsong, um sich komplett in das Album zu stürzen.

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2. Wagging Tongue

Ursprünglich ein folkiger Song, geschrieben von Dave Gahan im Stil der 70er-Jahre. Gore drehte das Demo dann auf links: Zum Einstieg gibt es analog-kosmische Synthies zu hören, wie bei Kraftwerk, Harmonia und anderen deutschen Elektro-Krautrock-Pionieren. Setzt dann der Beat ein, verortet sich der Track in einer Chartsshow der 80er-Jahre: „Wagging Tongue“ ist melodiös und unbeschwert, eine Reminiszenz an die Zeit, in der sich Depeche Mode besonders mit ihren Singles auch mal der naiven Fröhlichkeit hingaben.

FAZIT: Dürfte Vince Clarkes Lieblingslied auf dem Album sein – Single-verdächtig!

3. Ghosts Again

Die Vorabsingle, gemeinsam geschrieben von Martin Gore und Richard Butler, ein alter Bekannter von Gore, Songwriter und Sänger der Postpunk-Veteranen The Psychedelic Furs. Schon als im Rahmen der Pressekonferenz zur Ankündigung von MEMENTO MORI kleine Fetzen des Songs im Internet kursierten, löste der Sound von „Ghosts Again“ bei den Fans wohlige Erinnerungen an die melancholischen Synthie-Hits der späten 80er- und frühen 90-Jahre aus. Und in seiner Gesamtheit hält der Song, was er schon damals ver- sprach und damit die Vorfreude befeuerte: Nach vielen Jahren endlich mal wieder eine Depeche-Mode-Single, die wirklich sofort zündet.

FAZIT: Der jüngere Cousin von „Enjoy The Silence“.

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4. Don’t Say You Love Me

Ein Song, der klingt, als würden die Walker Brothers im Electro-Stil eine Soundtrack-Komposition von Ennio Morricone interpretieren, die dann David Lynch für eine kommende Staffel von „Twin Peaks“ benutzt. Gahan singt düster-beseelt, darunter eine der stärksten Zeilen des Albums: „You’re the singer, I’m the song“. Wobei Martin Gore und Richard Butler, die den Song gemeinsam geschrieben haben, natürlich wissen, wer welche Rolle spielt, ob in der Musik oder in der Liebe: It’s the singer, not the song.

FAZIT: So geht Blues im Jahr 2023.

5. My Favourite Stranger

Im Hintergrund fährt Co-Produzentin Marta Salogni groß auf, zu hören sind kaum verortbare elektronische Störgeräusche, die Atmosphäre ist furchteinflößend. Der Song besteht aus einer immer wiederkehrenden Strophe, Refrain und Auflösung? Fehlanzeige. Die Songwriter Gore und Butler spannen die Hörer:innen sehr konkret auf die Folter, Gahan singt über ein anderes, zerstörerisches Ich: „my imitation“. Am Ende klebt ihm das Blut an den Händen – Post-Industrial-Electro-Blues mit hohem Paranoia-Faktor!

FAZIT: Unbehaglich, kalt, höchst intensiv – ein Depeche-Moment für Kenner:innen

6. Soul With Me

Das Stück mit Martin Gore als Leadsänger. Er gibt den Crooner – zumindest in der Strophe –, singt mit viel Wärme. Beim Übergang zum Chorus erwartet man einen Ausflug in kitschige Balladen-Bereiche, doch Gore bricht mit einem leichten Grinsen im Gesicht mit der Erwartung, singt stattdessen mit nun leicht brüchiger Stimme einen smarten Soul-Refrain – und bereitet sich im Text auf die Flucht aus den „earthly cages“ vor, um dorthin zu ziehen, wo die Engel fliegen: „I’m taking my soul with me.“

FAZIT: Ein versteckter Soul-Song über Souls – Joke ganz nach Gores Geschmack.

7. Caroline’s Monkey

Ebenfalls eine Zusammenarbeit mit Richard Butler – und wohl das am wenigsten eingängige Stück auf MEMENTO MORI. Es handelt von Drogen und Sucht, der Affe auf Carolines Schulter steht für den Dämon der Abhängigkeit, für den „black elephant“, der im Raum steht und das Leben mit seinen Beziehungen zerstört.

FAZIT: Wichtiges Thema, gute Lyrics – dennoch ein Song, der einen bewusst auf Abstand hält.

8. Before We Drown

Gahans große Ballade auf dem Album, beginnend mit interessanten harmonischen Arabesken, später dann ein Song über die Ambivalenzen der Liebe, über die ständigen Zweifel, das Aufstehen und Fallen – und die Notwendigkeit, sich als Individuum vorwärts zu bewegen, bevor man gemeinsam untergeht.

FAZIT: Einer der besten Twisted-Love-Songs, die Gahan für Depeche Mode geschrieben hat.

9. People Are Good

Gore mochte „People Are People“ noch nie: Der Song, der Depeche Mode in den USA und Deutschland groß machte, war ihm textlich zu platt, zu eindeutig. Nun also „People Are Good“ – kein Rip-off des eigenen Hits (auch wenn man ihn auf dem Grundbeat singen kann), sondern eine Menschheitsbetrachtung, wie Songwriter Martin Gore sie lieber mag: bitterböse, voller Ambivalenzen. Auf die Phrase „everything will be alright“ folgt die Zeile „keep foolin’ yourself“ – Gahan versteht es, den passenden Tonfall für Gores Spott zu finden. Beim bluesigen Tremolo in der Strophe hat sich Gahan bei den gleichen Lehrmeistern inspirieren lassen wie Jochen Distelmeyer von Blumfeld.

FAZIT: Gore erneut im Joke-Modus, hier zwischen Zynismus und Fanservice.

10. Always You

Der Song beginnt mit komplexen Beats und Anklängen an Modern-Pop, dann erfolgt erneut ein Schwung in Richtung 80er-Synthie-Wave. Gahan zeigt noch einmal, dass seine Vocals stärker denn je von Songwriter-Blues beeinflusst sind. Gore formuliert in seinem Text Zeilen für ein Liebeslied, wie er es sich vorstellt: „My love, there are no more words / Life’s too absurd.“

FAZIT: Der Titel des Songs lässt eine andere Musik vermuten als diesen düsteren Abgesang auf Wärme und Nähe.

11. Never Let Me Go

Ein Gag bleibt auch dann gut, wenn man ihn wiederholt: Zum zweiten Mal nimmt Gore im Titel Bezug auf einen Klassiker – und ist das „Go“ vielleicht sogar ein Gruß an Vince Clarke und dessen Yazoo-Hit „Don’t Go“? Auch hier lässt sich beim Einstieg die Melodie des alten auf den Beat des neuen Stücks mitsingen. Dann aber entwickelt sich ein sehr starker, hitverdächtiger eigenständiger Song mit 80er-Beats, perlenden E-Gitarren und sehr starken Harmonie-Vocals von Gahan und Gore.

FAZIT: Auch hier – Single-Verdacht!

12. Speak To Me

Das große Finale des Albums, das viele sprachlos machen wird. Dave Gahan hat eine betörende und überlebensgroße Ballade geschrieben, über einen Moment auf dem Boden (ganz konkret: den Boden eines Badezimmers), über eine flehentliche Ansprache an ein höheres Wesen – und ganz offensichtlich über seine konkrete Nahtoderfahrung. Er bittet wie ein Betender, jemand möge ihn führen, er werde dieser Stimme folgen. Ob zurück ins Leben oder in den Tod? Das Stück beginnt ohne Beats, die Streicher steigern ihr Spiel bis zum Höhepunkt, als sie verhallen, bleibt ein pochender Beat zurück, der den Herzschlag eines Menschen symbolisiert. Eines lebenden Menschen, der sich seiner Sterblichkeit bewusst ist: MEMENTO MORI. Eine der intensivsten Hörerfahrungen in der gesamten Diskografie von Depeche Mode!

FAZIT: Ohne Worte.

GESAMTWERTUNG MEMENTO MORI: 5/6 Sterne

Hört MEMENTO MORI von Depeche Mode hier im Stream:

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Dieser Text erschien zuerst als Teil des größten Depeche-Mode-Specials aller Zeiten in der MUSIKEXPRESS-Ausgabe 04/2023, der übrigens auch eine exklusive Vinylsingle von „Ghosts Again“ beiliegt. Auf zum Kiosk!

Musikexpress / Sony