Die Zeotmaschine zum Zenith


14 Jahre nach dem Verschwinden ihres Gitarristen Richey James Edwards sind am neuen Album der Manic Street Preachers wieder alle vier Originalmitglieder beteiligt. Das zwangsgeschrumpfte Trio hat das Texterbe Edwards' in Musik verwandelt

Dass die großen Plattenfirmen ihre Künstler so gerne in charakterlosen Kettenhotels am Potsdamer Platz einquartieren, ist ein bisschen gemein. Wer hier für fünf Minuten vor die Tür geht, wird keine Beziehung zu Berlin aufbauen können. Viel Verkehr, Shopping-Center, irgendein Musical-Unsinn. Nicky Wire und James Dean Bradfield hat’s quasi doppelt getroffen. In der Hotelsuite, in der der Sänger und der Haupt-Textwriter der Manie Street Preachers die Interviews zu ihrem neuen, neunten Studioalbum JOURNAL FOR PLAGUE LOVERS geben, saßen unlängst erst Depeche Mode, davor The Prodigy. „Ja, es ist. der ,Old England‘-Raum“, sagt Wire lachend. Bradfield raucht ein bisschen verzweifelt aus dem Fenster hinaus, das man tatsächlich öffnen kann. „Old England“ ist eine Nichtrauchersuite.

Mit was für einer Einstellung seid ihr an die Songs herangegangen?

Nicky Wire: Mit Respekt und einem gewissen Verantwortungsgefühl, das ab und an in Angst umschlug. Als wir mit den Aufnahmen etwa zur Hälfte fertig waren, befürchteten wir, dass alles kollabieren könnte. Das lag gar nicht so sehr an den Songs, mit denen waren wir zufrieden. Eher am ganzen Drumherum. Das war aber nachträglich betrachtet übertriebene Empfindlichkeit.

Wie strukturiert war das Textmaterial, das euch Richey seinerzeit in die Hand gab?

James Dean Bradfield: Fast alle Lyrics waren fertig. Strophe, Bridge, Refrain -ganz klassisch. Das war das Schöne an diesen Notizen: Einmal hatten sie etwas Tagebuchartiges und waren durchaus ein Vermächtnis. Da waren Bilder drinnen, Kritzeleien, Collagen, dazu kurze Gedanken, Zitate, sogar Haikus. Aber dazwischen kamen eben immer diese fertigen Songs. Deswegen war es auch

einfach, damit zu arbeiten. Es war wie bei THE HOLY BIBLE Richey hatte die Texte geschrieben, wir entwickelten anschließend die Musik. Wire: Aber wir wollten natürlich eine Platte machen, die ihm gefallen hätte. Deshalb waren wir mit Steve Albini im Studio, deshalb spielten wir alles live ein und deswegen ist das Album auch musikalisch näher an unseren Ursprüngen als alles, was wir in den letzten 15 Jahren aufnahmen. Richey interessierte sich nicht für Technik, er besaß keinen Computer und hätte sich niemals ein Handy gekauft. Also nahmen wir auf Band auf. Die Platte ist tatsächlich so eine Art Zeitmaschine. Die Arbeit mit einem 27-jährigen Songwriter, der sich an seinem Zenit befindet. Wenn er noch hier wäre, wäre er ein großer Schriftsteller, denke ich.

War Richey während der Aufnahmen auf irgendeine Art und Weise präsent? Wire: Wir haben jetzt im Studio keine Anekdoten über ihn ausgetauscht. Es lag auch kein besonderer Spint in der Luft, es kamen uns auch keine Tränen. Klar mussten wir an ihn denken, aber auf eine andere Art und Weise. James und ich haben Glück, das wurde uns abermals bewusst. Wir können abschalten. Wir können uns vor den Fernseher setzen und acht Stunden Sport schauen. Richey war ein unglaublich intensiver Mensch, er hatte eine Uhr in sich, die immer tickte, die ihn dazu zwang, etwas zu erschaffen. Wir hatten ein Leben außerhalb der Band, und damit tat sich Richey schwer. Nach der Veröffentlichung von THK HOLY BIBLE wurde das schlimmer. Aus allem, was er sah oder las, wollte er einen Song machen. Der Hidden Track ist da ein gutes Beispiel: Er basiert auf Dingen, die ihm eine ältere Frau erzählte, als er sich kurz nach der Veröffentlichung von THE HOLY BIBLE in die Nervenheilanstalt einweisen ließ, zumindest haben wir das so in Erinnerung. Bradfield: Er befand sich am Ende in einem Zustand, in dem der Aus-Schalter fehlte.

Richey James Edwards Als ein Journalist ihn fragte, wie ernst ihm die Sache mit der Band sei, nahm Richey James Edwards eine Rasierklinge und ritzte „4 Real“ m seinen Arm. Edwardsivar eloquent und gebildet, provozierend und rücksichtslos. Nach den Aufnahmen zu THE HOLY HIBLE (1994) ließ sich der an Depressionen Leidende in eine Klinik einweisen am I. Februar 1995 verschwand er. Seine Band wurde danach zu einem der größten britischen Rockacts der 90er. Am 23. November 2008 wurde Edwards offiziell für tot erklärt.

Was ist die Gefahr einer solchen Platte?

Wire: Es kann sein, dass Leute den Ansatz der Platte nicht verstehen. Es kann aber auch sein, dass die Texte für die heutige Zeit, für diesen nicht endenden Kreislauf aus Horrormeldungen über ein kollabierendes System zu harsch sind. Vielleicht wollen die Menschen eher Pop, Eskapismus. Und das ist im Übrigen dann doch etwas, was uns während den Aufnahmen kam: Richey hatte keine Angst vor der Ernsthaftigkeit. Über die momentanen Zustände kön nte er so viel besser sprechen als wir.

Wird es schwer, dem in zwei, drei Jahren ein neues Album mit eigenen Songs entgegenzustellen?

Bradfield: Ich verstehe den Ansatz der Frage, und angesichts des immensen Talents Richeys ist sie sicher berechtigt. Aber zwei Dinge darfst du nicht vergessen: Einmal haben wir es geschafft, weiterzumachen, obwohl eines unserer Mitglieder von einem Tag auf den anderen verschwand. Eine schlimmere Belastungsprobe kann es für eine Band nicht geben. Mehr noch war das Ansatz für unsere Entwicklung. Heute weiß ich, dass Nicks Texte zwar ganz anders funktionieren, aber ebenso großartig sind. Stücke wie „If You Tolerate This, Your Children Will Be Next“ oder „A Design For Life“ sind sehr zielgerichtet. Oder „Send Away The Tigers“, das vom Menschen Tony Blair handelt und seinem riesengroßen Fehler, Soldaten in den Irak zu schicken. Und ich weiß genau, dass ich auch wieder an solchen Songs arbeiten möchte.

Wire: Gerade „If You Tolerate This …“ zeigt sehr eindringlich, um was es bei uns geht und auf welche Art und Weise wir eine politische Band sind. Es ist ein Lied über den spanischen Bürgerkrieg und den Kampf gegen den Franco-Faschismus, und es war in vielen Ländern Europas Nummer eins. Wir spielten den Song live in Bukarest, und über 15.000 Leute sangen mit. Das bestätigt uns natürlich. Da erkennst du auch den Unterschied zu so vielen anderen Bands von heute, die sich als politisch begreifen. Etwa Coldplay: Sie schreiben nie über Politik, sie haben keinen einzigen gesellschaftskritischen Song, aber sie tun so, als ob sie politisch waren.

Hätte Richey James Edwards einen Song wie „If You Tolerate This…“ geschrieben?

Wire: Nein. Richey hätte solche Lieder verkompliziert, sie wären keine Hits geworden. Ich glaube, dass meine Texte nicht so gut sind wie Richeys. Aber ich denke, dass ich dem Hörer eine andere Perspektive gebe, die weniger mit Innenansichten zu tun hat, dafür aber mehr mit Sozialem und mit Geschichte. Übrigens wird es bis zu unserer nächsten Platte wohl keine zwei, drei Jahre dauern. Mit JOURNAL FOR PLAGUE LOVERS werden wir sicher nicht ewig touren – das nächste Studioalbum dürfte also irgendwann im Lauf des nächsten Jahres in die Läden kommen.

Interview: lochen Overbeck Foto:

Albumkritik S. 97

www.manicstreetpreacbers.com