Dröhnung auf dem Dance Floor


ME/Sounds zieht die Bilanz eines Jahres. Das Ergebnis: Keine andere Band prägte die zurückliegenden zwölf Monate mehr als The Prodigy. Doch wer war außerdem noch wichtig? Wer tat nur so? Und wer hielt sich dafür? ME/Sounds gibt die Antwort. Ebenfalls im Rückblick: die besten Platten, die wichtigsten Konzerte, die feinsten Filme und die besten Bücher.

FÜR WIRKLICH FRISCHEN WIND HAT 1997 NUR eine einzige Strömung gesorgt: das britische Dance-Movement mit seiner Symbiose aus Techno, Rock und B-Boy-Culture. Insbesondere gilt das für die Chemical Brothers und The Prodigy, die mit“Dig Your Own Hole“ beziehungsweise „The Fat Of The Land“ zwei der einflußreichsten Werke des Genres vorlegten. Dabei sind die Chemicals – ähnlich ihren Kollegen von Fluke („Risotto“), Apollo 440 („Electro Glide In Blue“) oder den französischen Daft Punk („Homework“) – nur deshalb nicht so präsent, weil sie nicht über charismatische Frontfiguren vom Schlage eines Keith Flint oder Maxim Reality verfügen. „Das ist es doch, was uns erst zu einer richtigen Rockband macht: Wir haben ein Gesicht“, ereifert sich Prodigy-Mastermind Liam Howlett. Für ihn ist die energetische Melange aus Keyboard, Gitarre und griffigen Textzeilen längst so etwas wie das Manifest der Rock-Zukunft. „Scheiße, schau dir doch nur an, was derzeit in der Rockmusik passiert – gar nichts. Wir hingegen zählen zu den wenigen, die wirklich neue Akzente setzen. Natürlich klingt das arrogant. Aber wir haben ja wohl auch das Recht dazu, unsere Meinung zu sagen – hey, wir sind Engländer, der Inbegriff der Arroganz“. Arrogant oder nicht-Fakt ist, daß sich der selbstbewußte Mittzwanziger Howlett nicht nur als erfolgreicher Songwriter, sondern auch als gefragter Produzent etabliert hat. Und als solcher läßt er auch schon mal Größen wie David Bowie oder Madonna abblitzen: „Die wollen sich nur mit meinem Namen schmücken, um noch mehr Platten zu verkaufen. Aber da spiele ich nicht mit. Es ist meine Kunst, und die widme ich einzig und allein mir selbst. Schließlich will ich keine Witzfigur werden, die sich für alles und jeden hergibt. Schau dir Oasis an-die waren so lange auf allen möglichen Titelblättern, bis die Leute genug davon hatten.“

Dem drohenden Sättigungseffekt versucht die Band bewußt entgegenzusteuern. Zwar turnen The Prodigy als erfolgreicher Live-Act durch sämtlich Sportarenen des Globus‘, mit der aktuellen Single jedoch veröffentlichen sie bewußt einen eher sperrigen Song.“Smack My Bitch Up“ ist denn auch eher als Geschenk an die Fans gedacht. „Der Song ist viel zu heftig, als daß er groß im Radio gespielt würde“, spekulierte Howlett im Umfeld der Veröffentlichung. Dabei dürfte selbst die B-Seite („No Man Army“ mit Gitarrist Tom Morello von Rage Against The Machine) für den nötigen kommerziellen Schub sorgen. Für 1998 planen drei der vier Prodigys (Maxim Reality, Keith Flint und Leeroy Thornhill) zudem erste Soloalben. England bleibt eben für Überraschungen gut.

Nicht viel Neues indes gibt es in musikalischer Hinsicht aus Amerika zu berichten. Die Ausnahme: Moby. Der New Yorker Technopunk beglückte die Welt mit einem Album seiner gesammelten Filmmusiken („I LikeTo Score“) und einem Moby-Mix des James Bond-Themas.

Dennoch: Von der Liaison zwischen Rock und Techno einmal abgesehen, wird 1997 als vergleichsweise unspektakuläres Jahr in die Musikgeschichte eingehen. Und das nicht etwa, weil in den vergangenen 52 Wochen nichts Aufregendes passiert wäre, sondern einfach, weil es ein Jahr des „Status quo“ war – ohne echte Überraschungen, aber mit vielen Enttäuschungen, mit wenig Subkultur und viel Stagnation. Und das gilt für sämtliche Bereiche: Ob Rock, Pop, Rap, Grunge, Metal oder Alternative, in allen Genres begnügte man sich zumeist mit der Reproduktion sattsam erprobter Klischees. Statt Risiken einzugehen, wurde an bewährten Ausdrucksformen festgehalten. Die Folge: klangliches Recycling und in einigen Fällen gar das schiere Selbstplagiat. Dem Konsumenten blieb das nicht verborgen. Nicht umsonst blieben große Namen wie U2 oder auch Oasis weit hinter den kommerziellen Erwartungen zurück und erreichten das Soll trotz aufwendiger Marketingkampagnen nur mit Mühe. Die Schwierigkeiten der Etablierten eröffneten wiederum gute Chancen für neue Acts wie The Verve oder Chumbawamba, die denn auch erfolgreich in den Charts reüssierten. Ein verantwortlicher Faktor für diese Erfolge ist der ‚ Umstand, daß immer weniger verkaufte Platten notwendig sind, um relativ hohe Chart-Notierungen zu erzielen. Was zur Folge hat, daß die Tonträgerfirmen nicht müde wer-den, das Klagelied der sinkenden Umsätze zu singen und gleichzeitig höhere CD-Preise fordern. Die mangelnde Qualität vermeintlich zugkräftiger Produkte dagegen wird am liebsten totgeschwiegen. Mit Problemen kämpft auch die Konzertbranche. Manch vollmundig angekündigte Großveranstaltung schrammte nur knapp am finanziellen Desaster vorbei. Und auch die überraschende Inhaftierung von Impresario Marcel Avram, der einen Millionenbetrag am Finanzamt vorbeigeschleust haben soll, sind Indizien für die Krise. Die Konzertveranstalter müssen sich mit horrenden Produktionskosten und atemberaubenden Gagenforderungen herumschlagen, während die Kaufkraft auf Seiten des Publikums mehr und mehr schwindet. Zudem verfügen immer weniger Acts über ein genre-übergreifendes Potential. Dementsprechend werden häufig sogenannte Special Interest-Bereiche bedient: mit Britpop, Dance, HipHop, Alternative oder auch mit dem wiedererstarkten deutschen Schlager.

Ein weiteres Faktum: Viele Newcomer können sich nicht das nötige Gehör verschaffen. Auf der anderen Seite kreieren clevere Marketingstrategen im Rausch des Superlativs Medienmonster wie die allgegenwärtigen Spiee Girls. Wer nach musikalischer Innovation und handwerklicher Qualität sucht, muß schon genau hinhören. Oder einfach länger suchen. Es gibt ihn nämlich, den talentierten Nachwuchs – Man Or Astroman zum Beispiel, Sukia, die Stereophonics, Helium und Guitar Wolf, Grandaddy oder auch die Hellacopters.