„ICH SUCHE NACH DER PERFEKTEN LÜGE“


Menschen, Tiere, Emotionen: Sänger Bill Callahan setzt seine große amerikanische Erzählung fort und geht dabei wieder ungewohnte Wege – mal schwimmt er drauflos, mal flunkert er sich durchs Leben.

Ein neues Album von Bill Callahan wird nie als Event oder Comeback inszeniert. Jedes ist wie eine Jahreszeit, die sich unbemerkt aus der letzten heraus anschleicht, etwas ganz anderes ist, aber logischer Teil desselben großen Ganzen: ein weiteres Kapitel einer unvollendeten Geschichte, das die Richtung seiner ungewöhnlichen Laufb ahn weiterschreibt.

In den frühen 90er-Jahren erschien Bill Callahan auf der Bildfläche. Fast 20 Jahre lang veröffentlichte er als Smog, ab 2007 unter eigenem Namen Musik, deren erhabene Anmut sich im Laufe der Zeit immer klarer herausschälte aus den anfangs oft kruden Sound-Experimenten, in denen er sein unkonventionelles Songwriting mit unverstelltem Homerecording-Dilettantismus zu eigenartigem Avant-Folk verflocht.

Gerade erschien DREAM RIVER, Callahans mittlerweile 18. Album. Seit SEWN TO THE SKY von 1990 sind nie mehr als zwei Jahre zwischen zwei Veröffentlichungen vergangen. Es gab nie Kunstpausen, kein Verharren, kein Sich-Zieren, – Verlieren, – Sortieren, – Sammeln (und wenn doch, wurde es als Musik thematisiert). Er schreibt kontinuierlich an seiner Saga weiter, seinem Beitrag zu dieser großen amerikanischen Erzählung, in der er irgendwo zwischen Mark Twain, „Easy Rider“, Walt Whitman, „Rawhide“, „Apocalypse Now“ und Bruce Springsteen Geschichten erzählt, die stets extrem persönlich, manchmal fast schmerzhaft introspektiv sind, und sich zugleich an einem mythischen Amerika abarbeiten, an Landschaften, Flüssen und Meer, Pferden und Vögeln, an Fortbewegung, Gebäuden, Hässlichkeit und Schönheit.

Bill Callahan ist einer dieser charismatischen wie rätselhaften Künstler, deren schonungslose Offenheit und Ungeschütztheit oft etwas Verstörendes hat. Einer von der Riege, die als „schwierig“ gelten, zuweilen erratisches Verhalten, unberechenbares Auftreten an den Tag legen. Es gibt Geschichten, wie er Konzerte spielte, bei denen niemand wagte zu klatschen und er selbst nicht wirkte, als erwarte er dies. Stattdessen sah er ständig auf seine Armbanduhr, scheinbar dem Ende der Vorstellung entgegenfiebernd; bl0ß die Selbstoffenbarung hinter sich bringen. Im Laufe der Zeit wurde sein Schaffen stetig fokussierter, insbesondere nach dem Ablegen des Smog-Alias, als er auch auf Coverfotos die Sicherheit unscharfer Aufnahmen verwarf. Er erklärte seinerzeit, dass er sich „in a better place“ befinde. Boulevard-begeisterte Indie-Nerds waren überzeugt, das sei auf die damalige Beziehung zu Joanna Newsom zurückzuführen (das schöne Paar wurde als Beyoncé und Jay Z des Indie-Folk zelebriert). Der zeitlupenhaften Panik seines Frühwerks (z.B. die EP „Burning Kingdom“ und das Album JULIUS CAESAR) wich Leichtigkeit, die kargen Arrangements wurden oftmals fast verschwenderisch schön, seine reduzierten, repetitiven Songstrukturen auf ein Bett aus Streichern und zarten Bläsern gelegt, wo Callahans tiefer Bariton sonor und kristallin jeden Klangteppich durchsetzt. Im selben Maße schwer wie zart singt er seine intimen Texte stoisch, emotionslos: wie er vorträgt, gibt keine Anhaltspunkte, wie er es meint. Nichts daran ist illustrativ oder suggestiv, so wie z.B. Nick Cave immer eine ganze Theateraufführung zum Song liefert.

Der Bill Callahan der frühen 90er-Jahre mag allerdings wirklich noch an einem anderen Ort gewesen sein. Er taucht in „Drugs Are Nice“ auf, der lesenswerten „Post-Punk Memoir“ von Lisa Crystal Carver, Autorin und Herausgeberin des legendären „Rollerderby“-Fanzines, mit der er damals zusammen war. Sie beschreibt, wie sie ihn kennenlernt, mit falsch geknöpftem Hemd, wortkarg, präzise, genial, kaum in der Lage, einen konventionellen Alltag zu führen. Er nimmt unablässig wie besessen Musik auf, ohne Ambition, damit Erfolg und Anerkennung zu finden. Beide schlagen sich mit Jobs in einem „Friendly’s“-Restaurant durch, was für Callahan so schwer zu bewältigen ist, dass er einen Hausmeisterjob annimmt. „Ich hatte viele Jobs, keine, aus denen eine Karriere hätte werden können, sondern um die Miete zu zahlen. Der angenehmste war, nachts Supermarktregale einzuräumen. Mein bester Freund war an ein paar Tagen der Woche Schichtleiter. Dann mussten wir nichts tun, lasen Magazine und aßen die Lebensmittel. Der schlimmste war, als ich in einem Warenlager die Scheiße der Leute aufwischen musste. Sie schissen nicht in, sondern neben die Toilette, weil sie wütend auf die Geschäftsleitung waren, als Protest. Ich wurde dann gerufen: hier ist etwas Bestimmtes, um was du dich kümmern musst.“

Im Gespräch ist nichts an Bill Callahan schwierig. Er ist freundlich, lacht laut, wenn ein Gedanke an einen unerwarteten Ort führt. Ebenso ist er verblüffend offen. Er antwortet überlegt, aber ohne die entfernteste Abwehrhaltung, selbst wenn die Frage sehr persönlich ist. Bill Callahan strahlt Ruhe aus, aufrichtige Ernsthaftigkeit und Ironiefreiheit: was er sagt (oder singt), ist nie gefiltert oder abgesichert, ob er über Erinnerungen, Abgründe, die eigene Biografie, seinen Tagesablauf oder seine Herangehensweise ans Schreiben spricht.

Bestimmte rote Fäden ziehen sich durch seine Texte, der DREAM RIVER etwa reiht sich in eine Vielzahl von Gewässern ein – ein wiederkehrendes Motiv seit Beginn, z.B. der „Dead River“ auf FORGOTTEN FOUNDATION (1992).“Die erste Stunde des Tages lasse ich es langsam angehen, starre eine Wand an, aber in letzter Zeit gehe ich schwimmen, um aufzuwachen. Wenn Menschen aus Wasser und wenigen weiteren Elementen bestehen, spiegelt sich automatisch das ganze Leben im Wasser wider: Leben, Tod, Gemeinschaft. Ich liebe, wie Menschen sich dort anders verhalten als in jedem anderen öffentlichen Kontext. Sie sind entspannt, tun etwas für Körper, Geist und Freundschaft, sind dabei fast unbekleidet. Man muss sich in fast jeder Situation des Lebens in Kleidern verstecken, aber das ist in vielerlei Hinsicht eine Erfahrung von Nacktheit.“

Callahans Wasser- oder Vogel-Obsession („Vögel sind überall, man sieht sie, ob man möchte oder nicht, eine der Unvermeidbarkeiten des Lebens. Obwohl ich aufh ören möchte, Vogelsongs zu schreiben, und schon so viele habe, kann ich mich nicht dagegen wehren.“) sind nie romantische Naturverklärung. Das Amerika, das er – manchmal namentlich -besingt, besteht zum gleichen Teil aus Gemachtheit: aus Autos, Einkaufszentren und Fernsehen, wie das echte Amerika, das immer dann am aufregendsten ist, wenn es offensichtlich widersprüchlich ist, Natur und Fabrikation aufeinanderprallen wie beim Mount-Rushmore-Nationaldenkmal.

Und zugleich ist jedes Narrativ Fabrikation, egal ob die einer Nation oder die eigene, die sich Künstler (oder überhaupt: Menschen) in Songs, Büchern, Biografie oder Auftreten zurechtlegen. In Callahans Briefroman „Letters to Emma Bowlcut“(2010) heißt es: „My parents taught me to always lie about my profession.“ – Ein aufregender Satz, auch wenn man Kunst nicht auf Deckungsgleichheit mit der Lebenswirklichkeit des Autors absucht, der viel der Spannung enthält, die in Konstrukten wie „Familie“ oder „Beruf“ steckt. „Ich lüge eigentlich immer, was meinen Beruf angeht. Wenn der Friseur plaudern will, sage ich, ich mache etwas anderes, einfach um kurz davon wegzukommen. Ich suche nach der perfekten Lüge, ich habe sie noch nicht gefunden. Ich glaube, ich bin kein sehr guter Lügner, es fühlt sich immer furchtbar an. Meistens sage ich, dass ich Toningenieur bin, denn bei Rückfragen wäre ich aufgeschmissen, wenn ich mich als Zoologe ausgäbe, also suche ich etwas nahe der Wahrheit. Aber es scheint den meisten so uninteressant, dass keine Folgefragen kommen. Und was Lügen und Eltern angeht: in gewisser Weise lehren einen die eigenen Eltern zu lügen. Sie sind die ersten Menschen, die man anlügt, wenn man etwas zerbricht oder anstellt. Weil sie so viele Erwartungen haben, man sie glücklich machen und keinen Ärger bekommen möchte, lügt man. Das setzt sich ins Erwachsenenleben fort, wo sie längst keine aktive Rolle mehr spielen.“

In „Ride My Arrow“(in dem u.a. auch ein Adler, ein Fluss und die Zerklüftung der USA vorkommen) singt er: „I don’t ever want to die.“ Es soll nicht aufh ören. Das neueste Kapitel, DREAM RIVER, ist weniger umarmend als z.B. SOMETIMES I WISH WE WERE AN EAGLE, verästelter, poetischer, politischer. Doch spannender als jedes einzelne Album ist, wohin sich die große Erzählung noch bewegen wird.

Albumkritik ME 10/13