Memento Gewurschtel


Rechnen Sie bitte damit, dass diese Kolumne von Josef Winkler auch wieder keine Antworten bereithält.

Rechnen Sie bitte mit Behinderungen“, fordert mich die Dame im Radio auf, und während ich mich zaghaft herantaste, die philosophische und lebenspraktische Tragweite dieser Empfehlung zu kontemplieren, präzisiert – oder generalisiert, wie man’s nimmt – sie ihre Ansage: „Rechnen Sie bitte den ganzen Tag mit erheblichen Behinderungen.“

Ja, stimmt, da geht’s nur um Verkehrsfunk. Aber für sich genommen kann einen dieser Satz unter Umständen ganz schön weiterbringen. Wer mit erheblichen Behinderungen rechnet und also eigentlich nicht mehr unliebsam auf dem falschen Fuß erwischt werden kann und also gefasst und ausgeglichen bleibt im Angesicht noch der erheblichsten Behinderung, geht entspannter durchs Leben und anderen im Idealfall weniger auf den Zeiger. Zumindest nehme ich an, dass dies die Funktionalität eines solchen Satzes im Verkehrsfunk sein soll. Lösungsansätze – „Nutzen Sie die Umfahrung XY.“ „Lassen Sie Ihr Auto daheim.“ o.ä. – werden erst gar nicht mehr vorgeschlagen, vor einer Verbesserung der Umstände wird von vornherein kapituliert, dafür ein dulderhafter Umgang mit dem Unvermeidlichen nahegelegt. Ist das noch pragmatisch oder schon buddhistisch?

Es geht wohl einfach darum, aus hochgepitchten Erwartungen etwas den Druck rauszunehmen, was ja sinnvoll sein kann. Vielleicht wäre es z.B. generell eine Erleichterung für alle Beteiligten – Bands, Fans, Plattenfirmen, Journaille -, die zweiten Alben von zuvor lorbeerumkränzten Debütanten mit Stickern zu versehen. „Rechnen Sie damit, dass das nicht so ein Knaller ist wie das erste.“ Das zweite Strokes-Album hätte wohl eine andere Rezeptionshistorie, wenn da draufgestanden hätte: „Mit ein wenig Geduld gar nicht so schlecht.“ Oder auf der neuen Gossip: „Kommen Sie bitte mit der statistischen Unmöglichkeit klar, dass hier noch mal so ein Hit drauf ist.“

Es ist nämlich ein Kreuz mit den Erwartungshaltungen, ob nun von gewissenlosen Hypemaschinen geschürt oder durch quasi Autosuggestion erzeugt. Eklatantes Beispiel letztens hier in München mit dem „Finale dahoam“. Die komplette Matrix der Stadt ein gigantischer Blasebalg zur Schwellung der Erwartungshaltung – und nicht ein einziger Warnhinweis, keine Radiodurchsage, kein Memento mori: „Rechnen Sie damit, dass Ihre Heimmannschaft verlieren könnte und Sie dann brutal blöd aus der Wäsche schauen.“ Und so wurde dann halt allseits brutal blöd aus der Wäsche geschaut. Aber gehört wohl letztlich auch so.

Oder ganz wichtig: Erwartungshaltung auf Konzerten. „Rechnen Sie bitte damit, dass die Band live keinen Druck auf ihre Songs draufbringt“, geschenkt. Aber wie oft waren Sie schon auf Konzerten, von denen Sie schon Wochen im Vorfeld WUSSTEN: „Das wird das allergeilste überhaupt“, und dann standen Sie da drin und es war das allergeilste überhaupt? Mir ist das in meiner Erinnerung (selektive Wahrnehmung und konstruierte Realität in die Überlegung miteinbezogen) recht selten passiert. Da steht man dann mit seiner aufgeblasenen Erwartung, jetzt aber gleich so dermaßen mitgenommen zu werden ins Wolkenkuckucksheim, wo man für zwei Stunden an gar nichts anderes denken muss, Stichwort: Flow-Erlebnis. Und wenn es dann nur super ist und nicht ein komplett unfassbar hirnverändernder Oberhammer, wo bleibt dann der Kick? Die großartigen Mitnahme-Erlebnisse, die unvergesslichen Abende bereiteten mir oft Bands, die zwar auch meinem Herzen nah sind, von denen ich es aber nicht gar so genau zu wissen glaubte, wie genau sie mich gleich total umhauen würden.

Irritierenderweise hatte ich solche Antiklimax-Erlebnisse auch die letzten zwei Male mit der untouchable großartigsten Band der letzten 20 Jahre: Radiohead. Und da fragt man sich dann schon: Liegt’s an mir oder an denen? „Rechnen Sie bitte damit, dass auch Radiohead nur eine Band sind?“ Jetzt kommen wir aber in den Schmarrn hinein.