Merkwürdige Reflexe: Ein Brief aus New York City


Drei Monate alt ist das neue New York, das „United We Stand“-New York, das Flaggenmeer-New York; das, in dem alle zusammenhalten wollten und wo die Polizisten neuerdings sogar die Dominikaner grüßten. Der Zynismus wurde für abgeschafft erklärt und auch die Ironie. New York hat echten Schmerz kennen gelernt, hieß es, und den Tod gesehen. In den Kinos würden, so sagten Journalisten und Kulturexperten voraus, in der Zeit nach jenem Tag im September die Figuren nur noch lachen und sich lieben, und die Popmusik, ehemals nutzlos, verwandelte sich in ein einziges riesiges Wohltätigkeitskonzert. Die nicht unbedingt für ihre Ernsthaftigkeit bekannte Sängerin Anastacia sagte mir einige Wochen nach der Attacke, sie fühle sich als Künstlerin zerstört, und der Schauspieler Steve Buscemi wollte wieder Feuerwehrmann in Brooklyn werden, wie er es früher war. Die Verbrechensrate, sagte Bürgermeister Rudy Giuliani, sank um mehr als so Prozent in der ersten Woche ohne World Trade Center. In der zweiten Woche liehen die New Yorker 30 Prozent mehr Videos aus als im August, doch sie liehen nicht Filme über glückliche Familien oder verliebte Menschen, sondern vornehmlich Filme über Terroristen, Filme wie „Exit Wounds“,“Die Hard“ und „The Siege“. Hat sich wohl doch nichts geändert, sagte der amerikanischste aller Amerikaner, der Österreicher Arnold Schwarzenegger, und zog trotzdem seinen neuen Film „Collateral Damage“ auf unbestimmte Zeit zurück. Dann kam das Anthrax nach New York, und plötzlich war der Terror überall in der Stadt und überall in den Köpfen und rund um die Uhr. Jetzt kann es jeden treffen, und das jeden Tag. Soldaten beschützen die Brücken, Fahnen säumen ihre Masten. In dieser Zeit, es war am 10. Oktober 2001, 7 Uhr 57, verhafteten vier Polizisten des New York Police Departments, drei in Zivil, einer in Uniform, den Inder Uday Menon, 46 Jahre alt, Berater für die Investmentbank JP Morgan. Die Polizisten fesselten Menon von hinten und zerrten ihn aus dem Foyer eines Musicaltheaters in eine Seitenstraße, 45th Street. Dort beharrte Menon auf seine Unschuld, er sei kein Terrorist. Die Polizisten verhöhnten ihn. Nach einer Viertelstunde ließen die Cops Menon wieder gehen, er war doch kein Terrorist, er hatte nur am Tag zuvor telefonisch Musical-Karten für sich und sein Frau Surekha bestellt; es war ja sein zweiter Hochzeitstag. Der Frau am anderen Ende der Leitung war Menon suspekt: fremder Name, Akzent, und interessiert daran, wo genau seine Plätze sind und ob die Schau wohl ausverkauft werde: Der will Menschen in die Luft sprengen, soviele wie möglich, kombinierte die Telefonservice-Dame. Sie rief die Polizei. Zur gleichen Zeit ungefähr hatte Joshua Lopez, 22 Jahre alt, Rapper und Gangmitglied, seinen eigenen heiligen Krieg gestartet, den Jihad from Washington Heights. Dort kommt Lopez her, eine Gegend nördlich von Hartem, bekannt für ihre Banden und ihre Drogen, und Lopez hat eine mächtige Tätowierung, die sich von seinem Rücken seinen Hals hinauf bis zu den Haaren schlängelt. Lopez hatte sein reguläres Bandenleben unterbrochen, seine Wut auf „dieses bin Laden Arschloch“ ist größer als die auf die gegnerische Gang, die 169ers in Washington Heights. Und jeden Tag kommt er den ganzen Weg runter nach Lower Manhattan zu Ground Zero, wie die Trümmerstelle des ehemaligen World Trade Centers heißt, und marschiert für seine eigene Ein-Mann-Demonstration: „Fuck Osama and his Mama“ steht auf seinen Plakaten, und Lopez verlangt, von der Regierung in den Krieg geschickt zu werden. Er sagte mir, er würde sich sofort selbst in die Luft jagen, wenn das auch Osama in Stücke sprengt. Die haben Selbstmordattentäter? Dann müssen wir die auch haben. Das ist die Logik der Straßen von Washington Heights. P. Diddy, alias Puff Daddy oder Sean Combs, war nie in Washington Heights oder einer ähnlich üblen Gegend, doch auch er will den Terror bekämpfen, wie ich erfuhr auf einem der unzähligen Wohltätigkeitskonzerte. „Check this out, terrorist“, rief er von der Bühne, in Tarnfarben gehüllt, „ich werde dich bekämpfen. Ich kann jemanden wie dich nicht ausstehen.“ Amerika verstand, das ist das neue New York, das neue Amerika. Popsänger wollen nicht nur Platten verkaufen; sie wollen nicht nur gegen das Bestehende rebellieren wie früher. Sie wollen neuerdings Patrioten sein. Anstatt die Fahne unter lautem Geheul auf der Bühne zu verbrennen, wie 30 Jahre zuvor, wickeln sie sich lieber in jene, singen von Stars and Stripes und streiten auf der Seite der Regierung, der Regierung von George W. Bush. Plötzlich finden nicht nur Puff Daddy, sondern auch Destiny’s Child und die Backstreet Boys in ihrem Repertoire ein Lied, dessen Text mit ein bisschen Assoziationsvermögen die Anschläge betrauert, verdammt oder vorhersieht, und Aerosmith-Sänger Steven Tyler trägt einen bodenlangen Mantel, dessen Rückseite eine Flagge ist, während er in „Living On The Edge“ davon singt, wie die Welt auf der Kippe steht. Doch dann kamen die beiden Tage, an denen Destiny’s Child auftraten, zuerst in New York beim „Concert For New York“, am folgenden Abend in Washington DC bei „United We Stand“. In New York sangen sie noch ganz in schwarz. Es ging ja ums Trauern, in Washington trugen sie ganz Stars and Stripes. Es ging ja ums Feiern. Das neue New York ist kein neues New York. Es weckt nur ein paar merkwürdige Reflexe.

Der Autor, 27, lebt seit knapp zwei Jahren in New York City. Er hat dort Journalismus studiert, und schreibt jetzt Reportagen aus New York und den restlichen USA für den „Stern“ und den „Tagesspiegel“.