Mick Jagger


Über eines wollte er eigentlich nicht reden: die Stones. Viel lieber über seinen neuen Film "Free Jack", in dem Jagger einen modernen Kopfgeldjäger spielt. Doch nachdem der Stein der Steine alle Autogramme gegeben und sich mit ME/Sounds-Mitarbeiter Theo Kingma in ein ruhiges Eckchen zurückgezogen hatte, ging's natürlich doch wieder nur um das Eine...

ME/SOUNDS: Du bist bekannt wie ein bunter Hund. Irritiert es dich nicht manchmal, auf der Straße von Hinz und Kunz angesprochen zu werden?

JAGGER: Das ist inzwischen ein Bestandteil meines Lebens, den ich bewußt gar nicht mehr registriere. Insofern irritiert mich das auch nicht. Die einzigen Menschen, die mir auf den Geist gehen. sind die, die mich mit ihrer Meinung beglücken müssen, was ich ihrer Ansicht nach richtig und was ich falsch mache. Auch wenn ich weiß, daß sie es nur gut mit mir meinen: Es nervt. Ein Foto oder ein Poster zu signieren, verstehe ich hingegen ganz einfach als Kompliment…

ME/SOUNDS: Hast du selbst schon mal jemanden um ein Autogramm gebeten?

JAGGER: (Lacht) Bisher noch nicht. Ich kann mir auch nicht so recht vorstellen, daß ich mir ein Autogramm an meine Schlafzimmerwand pappen würde…

ME/SOUNDS: Hast du denn überhaupt keine Idole mehr?

JAGGER: Meine Familie. Ich bin ein fanatischer Verehrer meiner Familie …

ME/SOUNDS: und bei den Musikern?

JAGGER: Ich schätze diverse Musiker und liebe die Musik, die sie machen. Was aber nicht heißt, daß ich Weihrauch entzünde und sie idolisiere. Ich höre gern Guns N‘ Roses, Prince. U2, Sinead O’Connor, viel klassische Musik …

ME/SOUNDS: Wo wir gerade bei Guns A“ Roses sind: Bei einem eurer gemeinsamen Gigs in Los Angeles ging es ja drunter und drüber, als Axl auf der Bühne den Rest der Band beschimpfte und mit dem Ausstieg drohte. Was hast du an diesem Abend gedacht?

JAGGER: Ich dachte eigentlich gar nichts flucht). Um ehrlich zu sein: Ich genoß sogar die Situation. Was wirklich an diesem Abend passierte, weiß ich immer noch nicht so recht, aber ich erinnere mich noch gut, daß ich überhaupt nicht beunruhigt war. Übrigens keiner von den Stones. Während der Krawall auf der Bühne seinen Lauf nahm, lehnten wir uns entspannt zurück.

Guns N‘ Roses sind eine der interessantesten Bands im Moment, und sie sind die perfekten Gäste, die man sich für ein Vorprogramm nur wünschen kann, aber letztlich sind ihre Probleme auch ihre eigene Angelegenheit. Daß die Gruppe trotz des Ärgers nicht auseinanderbrach, war mir vom ersten Augenblick an klar. Dafür hat die Band einfach zu viel Substanz.

Darüber hinaus hatte der Krach ja sogar noch einen positiven Aspekt für die Gruppe: Am nächsten Tag sprach jedermann über sie. Wahrscheinlich (lacht) ist das die einzig plausible Erklärung: Sie wollten als Vorprogramm mehr Applaus und Aufmerksamkeit kassieren als die Hauptgruppe.

ME/SOUNDS: Mit welchen Gefühlen blickst du überhaupt auf die „Steel Wheels-Tour“ zurück?

JAGGER: Jede Tour ist eine schwere Geburt. Wenn man die gesamte Planung und Vorbereitung mit einrechnet, gehen Jahre drauf, die enorm an der Substanz nagen. Sowohl physisch als auch psychisch. Was die „Steel Wheels-Tour“ betrifft: Ich habe überdurchschnittlich viele gute Erinnerungen daran. Es gab nichts, was ich nach dem Ende eines Konzerts bereut hätte – nichts, was ich nachträglich gerne anders gemacht hätte.

ME/SOUNDS: Was hat die Gruppe nach dem Ende der Tour gemacht?

JAGGER: Jeder hat sich erst mal um die eigenen Sachen gekümmert. Tatsache ist, daß man, sobald die Tour-Vorbereitungen anlaufen, alle anderen Interessen auf Eis legen muß. Eine Tour erfordert die hundertprozentige Aufmerksamkeit. Das Problem ist folglich, daß mit dem Ende einer Tour die folgenden zwei, drei Monate dafür draufgehen, die persönlichen Angelegenheiten erst mal wieder auf Vordermann zu bringen.

Außerdem ist es immer wieder teuflisch ¿

schwer, den täglichen Rhythmus wiederzufinden. Tourneen erfordern nun mal einen bestimmten Lebensstil, und nach dem letzten Gig weiß man gar nicht mehr, wie man ohne die tägliche Tour-Routine leben kann. Da gibt’s böse Entzugserscheinungen. Ron Wood etwa steckt das locker weg. Der kann schon zwei Wochen nach Tour-Ende wieder an was anderem arbeiten. Keith und Bill haben die gleichen Probleme wie ich: Sie brauchen einige Wochen, um sich wieder in ihren eigenen vier Wänden einzuleben …

ME/SOUNDS: Ihr haltet die Tour bekanntlich in einen amerikanischen und in einen europäischen Teil unterteilt. Haben sich dadurch die Akklimatisierungsprobleme nicht nur noch vergrößert?

JAGGER: Wir hatten die Unterbrechung eigens eingeplant, um zwischendurch wieder etwas Luft schnappen zu können. Zwischen der „Steel Wheels-Tour“ und der Tournee davor lagen immerhin rund acht Jahre. Wir waren schließlich etwas außer Tritt. Doch was auf dem Papier wie eine gute Idee aussah, war in der Wirklichkeit dann doch ganz anders. Als der amerikanische Teil vorbei war und wir unseren wohlverdienten Urlaub hätten antreten können, schlug gleich wieder die Langeweile zu (lacht). Wir hatten uns gegenseitig hoch und heilig versprochen, uns während des Urlaubs strikt aus dem Wege zu gehen. Was normalerweise nicht weiter schwierig schien: Der eine war in England, der andere in New York oder schwirrte sonstwo durch die Weltgeschichte. Alle wollten sich hundertprozentig an die Absprache halten.

Aber es klappte nicht so ganz (lacht). Keith war der erste. Er rief schon am ersten Wochenende mit allen möglichen Ausreden an. Und bevor es mir richtig bewußt wurde, hingen wir schon halbe Tage lang am Telefon und palaverten hin und her, was wir auf dem zweiten Teil der Tour besser machen wollten. Sollten wir dieses verändern? Oder besser jenes hinzufügen? Das Eine gab dem Anderen die Hand – und am Ende hängten wir den Urlaub an den Nagel. Und ehe wir uns versahen, hockten wir schon wieder zusammen und warfen alles über den Haufen (lacht).

ME/SOUNDS: Kann man ein Tour-Konzept überhaupt variieren? Läuft es letztlich nicht doch darauf hinaus, daß nach einer gewissen Zeit aus der Kür das Pflichtprogramm wird?

JAGGER: (Lacht). So gesehen schon. Aber es gibt zumindest Möglichkeiten, um etwas Abwechslung in ein Konzert zu bringen: Wir hatten jeden Abend eine wechselnde Song-Reihenfolge. An anderen Abenden hatten wir gar keine. Dann gab’s das Wunschkonzert: Reihum spielten wir die Nummern, die einem während des Auftritts gerade in den Sinn kamen.

ME/SOUNDS: Trat nie die Situation ein, daß zwei Bandmitglieder gleichzeitig mit zwei verschiedenen Songs anfingen?

JAGGER: Nein, obwohl es vielleicht mal eine ganz interessante Variante gewesen wäre. Wir beugen solchen Pannen vor. indem wir vorher die Reihenfolge absprechen: Einmal bestimme ich, was wir spielen, danach liegt die Wahl bei Bill oder Keith. So hat jeder die Möglichkeit, gerade das zu spielen, was er im Moment hören will. Und diese Spontanität spürt das Publikum durchaus.

ME/SOUNDS: Es war zu hören, daß während der Tour ein abendfüllender Film gedreht wurde, und zwar im sogenannten IMAX-Verfahren, das optisch wie akustisch eine bislang unerreichte Brillanz bieten soll Was ist aus dem Projekt geworden?

JAGGER: Wir haben zwar reichlich Rohmaterial, aber ob dieses Material tatsächlich als Film in die Kinos kommt, steht noch nicht hundertprozentig fest. Ein Problem besteht darin, daß es auf der ganzen Welt nur eine Handvoll Kinos gibt, die IMAX-geeignet sind. Und auf dieses Extra an Qualität möchten wir natürlich nicht verzichten. (Aus welchen Gründen auch immer – Herr Jagger stapelt hier offensichtlich tief: Für November ist in Rotterdam die Premiere des von Julien Temple in Szene gesetzten „Rockumentarys“ bereits angesetzt. – Anm. d. Red.).

ME/SOUNDS: Von diesem Film einmal abgesehen, ist das Thema Stones ja nun vorläufig abgeschlossen. Womit beschäftigst du dich momentan?

JAGGER: Ich kann über Beschäftigungsmangel nicht klagen. Zuerst habe ich versucht, eine Zeitlang nur abzuschalten. War nicht drin. Dazu fehlt mir einfach das Sitzfleisch. Dann kamen einige Angebote, so zum Beispiel die Offerte, neben Emilio Estevez die Hauptrolle in „Free Jack“ zu spielen. Und diese Rolle war so interessant, daß ich kurzerhand zugesagt habe.

War das übrigens nicht der eigentliche Grund für dieses Interview? Wir sitzen hier so schön und plaudern über die Stones, wo ich doch eigentlich etwas Promotion für „Free Jack“ machen wollte…

ME/SOUNDS: In welcher Rolle gefällst du dir denn besser: als Sänger oder ab Filmschauspieler!

JAGGER: Ich weiß ja, wie schwer es ist, mal keine Fragen über die Stones zu stellen. Es sei dir vergeben und vergessen, aber werden wir noch irgendwann mal über den Film reden – oder nicht?

ME/SOUNDS: Okay, überzeugt. Kein Wort mehr über die Stones. Was deine Schauspielerei betrifft, so sind die Erfolge allerdings doch eher dünn gesät. „Performance“ war ein Kultfilm, „Ned Kelly“ ein Flop – und seitdem gab’s nur Mini-Rollen, wenn man mal vom einstündigen Video „Running Out Of Luck“ absieht. Was zieht dich noch immer zum Film?

JAGGER: Schauspielen und Singen haben nun mal enorm viele Gemeinsamkeiten. So wie man auf der Bühne in eine Rolle schlüpft, so kann man sich auch im Film in andere Charakteren hineinleben.

ME/SOUNDS: Aber erfolgreiche Sänger sind deshalb trotzdem nicht automatisch erfolgreiche Schauspieler. Julien Temple, mit dem du ja u.a. „Running Out Of Luck“ gedreht hast, bemerkte einmal, daß du ein Problem mit dem Schauspielen hättest, „weil Mick dieses grelle Sexsymbol Mick Jagger kreiert hat, obwohl er privat ganz anders ist. Und jedesmal, wenn er ans Schauspielen denkt, wird er automatisch zu Mick Jagger, dem monströsen Bühnengeschöpf“.

JAGGER: Ich behaupte ja gar nicht, mit meinen früheren Filmen zufrieden zu sein. „Performance“ z.B. konnte ich mir lange Zeit nicht anschauen. Es kotzte mich regelrecht an. Aber nach jedem Film, nach jeder kleinen Rolle habe ich mir immer wieder gesagt, daß ich das schon viel früher und viel ernsthafter hätte angehen sollen. Die Produktion von Videoclips z.B. macht mir immer ungeheuren Spaß. Sicher, Spielfilme sind natürlich ein anderes Kaliber. Aber ich habe auch während der Dreharbeiten zu „Free Jack“ gemerkt, daß ich durchaus dazulernen kann. ME/SOUNDS: Und wenn es mit dem Schauspielen doch nicht klappen sollte: Reizt es dich dann nicht vielleicht, es auch mal als Regisseur zu versuchen?

JAGGER: Nein, von halben Sachen halte ich nichts. Ich bin mit dem zufrieden, was ich bisher getan habe, und obendrein habe ich nicht das Gefühl, daß ich das Talent zum Regisseur hätte.

ME/SOUNDS: Soll ich noch mehr Fragen über den Film stellen?

JAGGER: Zum Beispiel, ob der Film wirklich so gut ist, daß ihn niemand verpassen sollte.

ME/SOUNDS: Ist der Film wirklich so gut, daß ihn niemand verpassen sollte?

JAGGER: Klar doch! Es ist der beste Film, der je in Hollywood produziert wurde! Für diejenigen, die mich als Schauspieler nicht ganz so sehr mögen, spielt ja auch noch Emilio Estevez mit. Es gibt also keinen einzigen guten Grund, warum man den Film links liegen lassen sollte. Es ist übrigens ein Polizeifilm mit reichlich Action. Das wollte ich doch noch gesagt haben, bevor ich es ganz vergesse. Ich glaube, das sind doch recht wichtige Informationen (lächelt süffisant).

ME/SOUNDS: Welche Filme sind denn deine Favoriten?

JAGGER: „Free Jack“ ist mit Abstand das beste, was je in einem Kino gezeigt wurde.

ME/SOUNDS: Deine Band, um das Wort Stones zu vermeiden, hat angeblich im Moment keinen gültigen Kontrakt mehr. Und es heißt, daß du im Alleingang, ohne juristischen Beistand, einen neuen Deal aushandeln würdest.

JAGGER: Weißt du eigentlich, daß die Interview-Uhr fast abgelaufen ist? Ich glaube, du bist soear schon über die Zeit.

ME/SOUNDS: Aber ich bin so neugierig!

JAGGER: Dann wirst du sicher auch noch wissen wollen, ob die Stones überhaupt noch zusammen sind …

ME/SOUNDS: Richtig. Schließlich gibt es ja Gerüchte, daß Bill Wyman überhaupt nicht mehr mit an Bord ist.

JAGGER: Soweit ich weiß, gehört er noch immer dazu …

ME/SOUNDS: Das klingt nicht allzu überzeugend JAGGER: Schau, die Stones sind keine Gruppe in dem Sinne, daß die Bandmitglieder konstant miteinander auftreten. Diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei. Wir stehen in regelmäßigem Kontakt und besuchen uns gegenseitig, um die anliegenden Fragen zu besprechen. Das ist aber auch alles, und dabei bleibt es. Nur wenn ein größeres Projekt wie eine Tournee zur Sprache kommt, sind wir auch für längere Zeit zusammen. Im Moment ist aber kein großes Projekt in Sicht.

Was unseren Plattenvertrag betrifft, gibt es darüber nichts zu erzählen, weil die Situation für uns selbst noch etwas unübersichtlich ist. Vertragsbesprechungen können sich über Monate hinziehen, gerade in einer Zeit, wo Mega-Deals mit tausend Klauseln und Sonderregelungen ausgedealt werden. Wir werden sehen.

ME/SOUNDS: Machen wir zum Abschluß ein kleines Quiz. Was fallt dir zu folgenden Stichworten ein: Sänger der „greatest rock’n’roll band on earth“ zu sein?

JAGGER: Vermutlich der beste Job, den ich mir vorstellen kann. Nächstes Jahr ist es schon 30 Jahre her, daß wir unseren ersten Auftritt hatten, und das soll uns erst mal einer nachmachen.

ME/SOUNDS: Soloprojekte?

JAGGER: Vermutlich der beste Weg, der täglichen Routine zu entkommen und angestaute Frustrationen abzubauen. Man trifft andere Musiker, alles dreht sich um dich und mal nicht um die Gruppe, und hinterher fühlt man sich einfach wieder randvoll mit Energie, um sich mit der Band wieder in die Arbeit zu stürzen. Außerdem sind Soloprojekte ein ideales Mittel, um Gerüchte in die Welt zu setzen. Jedesmal wenn einer von uns ein Soloprojekt erwähnt, glaubt jedermann, daß es das Ende der Gruppe bedeute. Alles Unsinn. ME/SOUNDS: Familie? JAGGER: Vermutlich das Thema, worüber ich am wenigsten spreche. Genaugenommen spreche ich nie darüber. Ich habe in all den Jahren versucht. Arbeit und Privatleben so konsequent wie möglich auseinanderzuhalten. Und ich bin stolz, daß mir das gelungen ist.