Retro Stefson


Der jüngste Island-Export verweigert die Normerfüllung: Statt Melo-Pop oder lässigem Elektro zelebrieren Retro Stefson einen wilden Stilmix aus Disco, Afrobeat und Rock-Gitarren.

Und dann gibt es diese Momente, in denen man Retro Stefson am liebsten mit nach Hause nehmen möchte: Etwa wenn der Percussionist und Backing-Sänger Haraldur Ari Stefánsson dem Publikum beim Konzert im Berliner Lido charmant jene Choreografie näherbringt, mit der aus den Stücken der Band ein erstaunlich unpeinliches Tanz-Gesamtkunstwerk wird. Oder wenn Sänger Unnsteinn Manuel Stefánsson (die beiden sind nicht verwandt, kennen sich aber aus dem Kindergarten) im Interview auf die Frage nach der Vielsprachigkeit der Band mit völlig ernsthafter Miene anfängt, Sätze wie „Englisch singen wir in den coolen Songs. Leider haben wir nicht sehr viele coole Songs, weil ich nicht so gut Englisch kann“ zu diktieren, um anschließend mit hervorragender Nerd-Kante über afrikanische Rockmusik der 80er-Jahre zu dozieren.

Ein genuines Interesse, vielleicht auch eine Suche nach den eigenen Wurzeln: Stefánssons Mutter stammt aus Angola, er wuchs teilweise in Portugal auf. Ihre Sprache: das von etwa drei Millionen Menschen gesprochene Kimbundu. „Ich würde das wirklich gerne lernen“, sagt er. Das Problem: Lehrbücher im klassischen Sinne gibt es nicht.

Die Sache mit den fehlenden coolen Songs ist natürlich Unsinn. Der charmante und von viel Lust an musikalischen Umwegen geprägte Mix aus allem Möglichen, der zwischen dem Debüt Montaña (2008) und dem nun erschienenen Kimbabwe einiges seiner Naivität verloren hat, besitzt eine Attraktivität, der man sich kaum entziehen kann. Die Unterschrift beim Major Universal und der gemeinschaftliche Umzug nach Berlin sind nur logisch und für die Band gewissermaßen der zweite Akt ihrer Laufbahn. Der erste ging zu Hause in Reykjavík über die Bühne. 2006 gründete Unnsteinn die Gruppe, übrigens auf Anregung von Mitgliedern von Reykjavík! und FM Belfast, die seinerzeit in einem Jugendzentrum arbeiteten und eine Band für einen Wettbewerb brauchten. Den verloren Retro Stefson, was ihnen egal sein konnte, folgten doch ein erster Auftritt beim Iceland Airwaves und ein Plattenvertrag. Ob ihnen in Deutschland irgendwas aus ihrer Heimat fehlen wird? Sie denken lange nach. „Die Mütter“, sagen sie schließlich – die Freunde würden zumindest die Ferien hier verbringen. Auch deshalb suchen Retro Stefson aktuell ein Haus. Die wichtigsten Bedürfnisse: eine Sauna und ein großer Garten. „Wir wären gute Mieter. Wenn die Vermieter Spaß haben wollen, müssen sie nur in ihr Haus kommen und mit uns tanzen.“

Albumkritik S. 110

* Schuld an der großen Dichte isländischer Bands, so sagt Sänger Unnsteinn Manuel Stefánsson, sei zweierlei: einmal die hervorragende musikalische Früherziehung, aber auch Múm. Die seien a) mit jedem verwandt und würden b) mit großer Freude jungen Gruppen ihr Equipment leihen.

* Die Tanzeinlagen Haraldur Ari Stefánssons haben in Island Kult-Charakter. Dort tanzt das Publikum mittlerweile ohne Anleitung die richtigen Schritte.

* Das Shooting des „Kimba“-Videos war quasi die letzte Amtshandlung der Band in Island. Die Tänzerinnen sind die Gewinnerinnen der Europäischen Gymnastik-Meisterschaften. „Eine sträflich unterschätzte Sportart“, sagt Unnsteinn Manuel Stefánsson.