smells like… NIRVANAMANIA


Die Wege des Herrn sind auch für Nirvana-Sänger Kurt Cobain samt Anhang unergründlich, verstößt die Band doch aus Prinzip gegen jede Marktregel. ME/Sounds-Autor Tho- mas Schultze fand genau darin das Erfolgs-Rezept des Trios.

Willkommen im Nirvana: Nach Wochen zäher Präsenz in der Top 10 der US-Album-Charts schiebt sich ein schwer lärmendes Heavy-Pop-Trio aus dem Nichts vorbei an gold-klingenden Namen wie Guns N“ Roses oder Michael Bolton und nimmt die Spitze im Handstreich. Einfach so, ohne Vorwarnung. Und niemand ist von der plötzlichen Sympathieflut mehr überrascht als die Täter selbst, von ihrer Plattenfirma eanz zu schweigen.

Corpus Delicti NEVERM1ND, ihr Major-Debüt und die insgesamt zweite LP von Nirvana, hat sich mittlerweile mehr als 3.000.000 mal verkauft, und es scheint, als ginge die Nirvana-Mania erst richtig los. Vor nur vier Monaten noch war das Album ein Schuß ins halbprofitable Blaue, abgefeuert von einer weiteren Ex-Indieband. die das derzeitige Interesse der Majors am Underground-Rock der auslaufenden 80er für sich nutzen konnte. Heute ist NEVER-M1ND ein Klassiker.

Ob es — hochgelobt — der Schlüssel zu einem neuen Rock-Zeitalter sein wird, müssen die nächsten Jahre zeigen. Fest steht, daß mit Nirvanas hochprozentiger Fusion von Pop, Punk und Metal eine Musik Einzug in die Charts gehalten hat, die vor wenigen Jahren kein Radiomoderator der Welt mit Gummihandschuhen angefaßt hätte. Und auch wenn es scheint, als kämen die plötzlichen Medienlieblinge — selbst der „Spiegel“ widmete dem Phänomen eine Seite — nicht von dieser Welt, hat Nirvana eine Geschichte, die bis Mitte der Achtziger zurückreicht.

Damals beginnt Kurt Cobain, ein phlegmatischer, in einem Campingwagen-Park aufgewachsener Teenager — der Prototyp des zu Tode gelangweilten Rebellen ohne Grund — mit seinem Kumpel, dem schlaksigen Riesen Chris Novoselic. in einer Garage zu musizieren. Beide wohnen in Aberdeen, einem unbedeutenden Kaff im Einzugsgebiet der Nordmetropole Seattle, ihre müde Freizeit beleben sie mit Konzertbesuchen der hiesigen Dorfkapelle, der Melvins. 1988 trifft das Duo auf Drummer Chad Channing. nennt sich Skid Row (!), später Bliss und kurz darauf Nirvana und sucht den tonnenschweren Un-Rock der Lokalheroen mit Cobains Faible für europäische Popbands zu kombinieren.

Zur selben Zeit konsolidiert sich im lange Zeit als Diaspora verlachten Seattle ein fester Rock-Untergrund. Zwei Ex-DJs, Bruce Pavitt und Jonathan Poneman, vereinigen Kapital und Geschicke und gründen das Label Sub Pop. Den Vorbildern Stax und Motown entsprechend, werden nur lokale Bands unter Vertrag genommen. Nirvana zählt bald zum festen Kreis der Sub Pop-Clique, und mit einem eigenartig lethargischen Sound zwischen Nihilismus und zukkersüßen Popmelodien läuft das Trio den renommierteren Acts Soundgarden und Mudhoney schnell den Rang ab.

Eine erste Single auf Sub Pop läßt nicht lange auf sich warten: „Love Buzz“. ein Cover der holländischen Frühsiebziger Popgruppe Shocking Blue (unvergessener Hit: „Venus“), manifestiert schon damals den, wenn auch bei einer Auflage von 1000 Exemplaren sehr bescheidenen Anspruch Nirvanas auf den Pop-Olymp. „Yeah“, kommentiert Cobain heute lakonisch, „das Original ist schrecklich, aber die Melodie ist großartig.“

Nirvana fügen sich nahtlos in das Sub Pop-Konzept einer neuen Rockmusik, abseits von Punk und Metal. Sub Pop-Chef Bruce Pavitt: „Nirvana hat das nötige Quantum an Pop-Sensibilität, ohne dabei weniger hart zu sein als Metal oder Punk-Bands. Die Band schreibt einen Hit nach dem anderen.“

Kurzzeitig zum Quartett angewachsen, nehmen Nirvana ihre erste LP BLEACH auf. Stolz brüstet sich die Band auf dem Plattencover, die Aufnahmen für läppische 600 $ unier Dach und Fach gebracht zu haben. Sub Pop-Hausproduzent Jack Endino: „Es war die letzte Platte des Studios, die auf der alten 8-Spur-Maschine aufgenommen wurde. Aber Kurt ist ein derart hervorragender Musiker, der würde auch mit sieben auskommen.“ Mit gesundem Abstand sieht der notorische Nörgler Cobain die Aufnahmen heute. Mehr als ein lapidares „Ganz okay“ ist ihm nicht zu entlocken.

Dabei etabliert BLEACH Nirvana nahezu umgehend als neue Lieblinge des Gitarren-Underground und macht die Band über die Grenzen Seattles hinaus bekannt. Nervenaufreibende Soundelaborate der Anfangszeit müssen bereits damals Cobains hingebungsvollen Powerpop-Songs weichen. Je simpler, desto besser. Noch heute ist „Molly’s Lips“ von den englischen Poppern The Vaselines ein Standard bei Nirvana-Shows — “ weil er nur aus zwei Gitarrengriffen besteht“, wie Cobain stets mit leuchtenden Augen berichtet.

Ihr Sprung in die Untergrund-Oberliga bleibt den Talentscouts der großen Plattenfirmen nicht verborgen. Nach einem musikalisch toten Achtziger Jahrzehnt ist Rockmusik für Teenager — und damit auch für die Plattenfirmen — plötzlich wieder interessant. Wie zu Pionierzeiten des Punk rekrutieren sich Bands abermals aus den Reihen der Hörer und erinnern sich an die verpönten Lieblingsbands ihrer frühen Jugend: Led Zeppelin, Aerosmith und gar Kiss und Cheap Trick steigen aus der Gruft der Plattenschränke. Vermischt mit der Aggressivität des Punk und dem schalen 80er Nachgeschmack von Isolation und Wurzellosigkeit entsteht eine neue Musikvariante. Stilmauern werden niedergerissen, und jeder bedient sich aus dem reichhaltigen Angebot: Psychedelic, Heavy Metal, Hip Hop, Soul, Funk, Disco. Die Mischung Nirvanas bringt die Entwicklung auf den Punkt: „Nimm Black Sabbath, Black Flag, gib eine Menge The Knack und Bay City Rollers dazu — und du ertiältst Nirvana“, lautet die Selbstanalyse des Kurt Cobain, Das Rennen um den Geheimtip aus dem Nordwesten macht schließlieh Geffen, die Plattennrma, die nicht nur Guns N“ Roses, sondern auch die artgleichen Wegbereiter Sonic Youth unter Vertrag hat. Die Undergroundszene murrt.

Kurz darauf scheidet Drummer Chad Channing aus und wird durch den 22-jährigen Dave GrohJ ersetzt, der sich bei der Hardcore-Legende Scream einen Namen als härtester Drummer Amerikas gemacht hat. Grohl liefert das letzte Quentchen Energie für den Senkrechtstart. Vor allem live präsentieren sich Nirvana mit seiner schlagkräftigen Philosophie extrem kompakt: „Es war laut. Die Leute tanzten wie wild. Auf dem Heimweg hatte ich Kopfschmerzen.

Nirvana. Mehr sollle in einer Kritik über uns nicht stehen“, meint Grohl.

Mit ihm im Bunde erscheint schließlich NEVERMIND – und beginnt sofort, eine verblüffende Eigendynamik zu entwickeln. Unterstützt einzig vom anarchischen Video zu „Smells Like Teen Spirit“. das bei MTV plötzlich ständig über den Bildschirm flimmert, hebt die Platte sofort ab. Von Hype keine Spur. Die ungeahnte Mundpropaganda, die Nirvana ins Verkaufsnirvana treibt, riecht tatsächlich nach einem „teen spirit“, der nach der jahrelangen Dominanz von vorgefertigt abgepacktem Rock fast vergessen war. „Es gibt keine Rebellion mehr in der Rockmusik“, lamentieren die Drei und schränken sofort ein: „Zumindest nicht sehr oft. „

Im Augenblick sind sie dabei, das Gegenteil zu beweisen: Nirvanas einziges Image ist, keines zu haben. Der patente Second Hand Look mit zerrissenen Jeans, ausgelatschten Turnschuhen und labbrigen T-Shirts ist ebenso unprätentiös wie die fast schon spartanische Musik — und entzieht sich jedem Schubladendenken. Mit Nirvana stehen die unverstandenen Kids der 80er, deren amerikanischer Traum aus tristem Vorstadt-Leben und einem Fernseher mit 25 Programmen besteht, plötzlich selbst im Rampenlicht.

Auch wenn Nirvana weit davon entfernt sind, eine politische Band zu sein, sorgt ihr stetiges Desinteresse an den finanziellen Aspekten ihrer Musik für eine angenehme Abwechslung im profitorientierten Markt. Der Vorwurf des Ausverkaufs plagt ihr Gewissen: Nichts versetzt die Drei mehr in Ekstase, als auf Plattenbörsen eigene Bootlegs zu entdecken. Überlegungen, alle Konzerte schon bald mit freiem Eintritt zu spielen, dürften schon jetzt für Magenkrämpfe bei den Verantwortlichen sorgen. An nervenzehrenden Einfällen fehlt es Nirvana kaum: Die CD-Zweitpressung von NEVERMIND etwa enthält einen 13. Song, der erst zehn Minuten nach dem letzten Track beginnt und für siebenminütiges Lärmchaos (Titel: „Nameless, Endless“) sorgt.

Mit NEVERMIND ist eine lange schwelende Entwicklung in die entscheidende Phase gegangen: Der Underground-Rock der 80er ist zum Mainstream der 90er geworden. Was mit Jane’s Addiction. Soundgarden, R.E.M. und Fugazi begann, steht jetzt mit Nirvana in seiner vollen Blüte: Rock with a cause! Diese Bands lieben ihre Musik viel zu sehr, als daß sie Geld interessieren könnte. Kids, die man wirklich nicht kaufen kann? Smells like teen spirit…