Strom? Nein danke!


Rohkost statt Musik aus der Konserve: Der Clip-Sender MTV nimmt in "Unplugged" den Rockern die Stromgitarren weg.

MTV und Fruchtzwerge hatten schon immer viel miteinander gemein — beide sind frei von Ballast-Stoffen und stören daher auch beim Einschlafen nicht. Doch seit einigen Monaten wird das unverbindliche Plätschern der bunten Pop-Bildchen, bislang verläßliches Mono-Format des amerikanischen Clip-Senders, des öfteren rüde unterbrochen, bügelnde Hausfrauen von schwitzenden Musikern auf dem Bildschirm irritiert. „Unplugged“ heißt die neue Live-Linie und das Rezept dafür ist einfach: MTV zieht den auftretenden Rock- und Pop-Größen einfach die Stecker („Plugs“) aus den Stromgitarren, Synthesizern und Sampling-Computern und läßt sie mit Wander-Klampfen und Holz-Bongos ihre Hits in Lagerfeuer-Versionen zum Besten geben.

Was in den USA vor gut eineinhalb Jahren auf verschämt-versteckten Mondlicht-Sendeplätzen mit Akustik-Konzerten von Nuclear Valdez, The Smithereens und The Alarm als zaghafter Versuch, aus dem gebetsmühlenhaften Wiederkäuen der Top-40-Videos auszubrechen, begann, hat sich inzwischen zu einem wahren Einschaltquoten-Renner bei MTV entwickelt. Kein Wunder, denn zumeist geht das Konzept auf. Wenn zum Beispiel Robert Smith im Kreise seiner westernklampfenden Cure, eingebettet in ein hippieskes Kuschelkissen-und Tropfkerzen-Ambiente, auf dem Boden sitzt und sein Heul-Organ live mit einer klagenden Slide-Gitarre (stilecht mit einer Zwirn-Rolle statt einem Bottleneck gespielt) ergänzt, oder Sting seinen konzentrierten Weltschmerz in den Standbass zupft — immer sind es ausschließlich einfache Mikrofone, die den Live-Sound in die heimischen Fernsehzimmer übertragen.

Oder — wie bei Alt-Beatle Paul McCartney — auch auf Tonband. Wohlwissend, daß sein „Unplugged“-Auftritt vor allem den VHS-Bootleggern der westlichen Welt Freude (und einen klingelnden Geldbeutel) bescheren würde, entschloß sich Paul noch während der Rückfahrt ins Hotel nach der Show, den Auftritt als Platte zu veröffentlichen. „Wir haben den Mitschnitt über den Auto-Cassettenspieler gehört“, erinnert sich McCartney, „und als wir dann in die Hoteleinfahrt einbogen, wußten wir: das wird das schnellste Album, das wir jemals eingespielt haben.“ UN-PLUGGED – THE OFFICIAL BOOTLEG ist in der nicht ganz unbescheiden limitierten Auflage von 500.000 Stück weltweit inzwischen auf dem Markt und Paul hielt sein Versprechen, das „Material nicht im Studio nachzubearbeiten“. Der Sänger, letztes Jahr in die Riege der Miliardäre Großbritanniens aufgestiegen, gedachte gar seiner Anfangstage und klampfte, unterstützt von seinen Tour-Musikern und der unvermeidlichen Linda (diesmal durfte sie mehrmals die Maraca shaken), mit „I Lost My Little Girl“ den ersten Song, den er im Alter von 14 Jahren als Schuljunge in Liverpool geschrieben hatte. „Eigentlich war es ein Witz“, feixte er später, „denn wir haben es genauso gemacht wie die Bootlegger — nichts ist hinterher von einem Produzenten geglättet worden, all unsere Spielfehler sind zu hören.“

Bei McCartney oder bei akustisch fremdgehenden Schwer-Rokkern wie Aerosmith und Poison (Slaughter klampften gar live im Wohnzimmer eines Fans in der Kleinstadt Asheville/North Carolina) eher ein charmanter Farbtupfer, hinterlassen die unvermeidlichen Verspieler in der „Unplugged“-Reihe vor allem bei Acts aus dem HipHop-Lager oft einen eher schalen Nachgeschmack — A Tribe Called Quest und De La Soul fielen voll durch, L.L. Cool J konnte das Desaster nur dadurch verhindern, daß er sich spontan an die R&B-Wurzeln schwarzer Musik erinnerte. Kein Wunder: Lippen-Akrobaten wie Madonna oder Paula Abdul schlugen die MTV-Einladungen erwartungsgemäß aus, denn sie benötigen für gewöhnlich mindestens zwei „plugs“ — den Mikro-Stecker für die Zwischenansagen und den heißen Draht zur Playback-Maschine für die Songs.