Kritik

„The Stranger – Ich schweige für dich“ auf Netflix: Die Fremde, die Leben ruiniert


Ein Thriller-Bingewatch für zwei Abende: In der Miniserie zu Harlan Cobens „The Stranger“ erpresst eine Unbekannte verschiedene Menschen mit der Veröffentlichung privater Geheimnisse. Welches Ziel verfolgt sie? Was sollen all die absurden Geschehnisse, die gleichzeitig passieren? Und was zur Hölle hat das mit „Saw“ zu tun?

Im ersten Teil des Horror-Franchise „Saw“ gibt es diese wahnsinnige Auflösung, die keiner kommen sah: Die Leiche, die 107 Minuten lang leblos zwischen zwei in einer Zelle gefangenen und durch Folterspiele gequälten Menschen lag, ist gar keine. Sie steht plötzlich auf und entpuppt sich als ihr Peiniger Jigsaw persönlich. Ein Wendepunkt, den Protagonisten und Zuschauer nur deshalb nicht kommen sahen, weil er im Nachhinein viel zu offensichtlich erscheint. Und weil zur Ablenkung viel zu viele Nebelkerzen gezündet wurden, wie bei einem Zaubertrick. „The Stranger – Ich schweige für dich“, die nach „Safe“ zweite Netflix-Serienadaption eines Thrillers von Harlan Coben, die seit dem 30. Januar 2020 im Stream zu sehen ist, funktioniert nach dem exakt gleichen Prinzip.

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Adam Price (Richard Armitage) lebt ein Familienleben wie im Bilderbuch. Mit seiner Frau Corrine und den gemeinsamen Söhnen wohnt er in einem reichen Vorort einer namenlosen britischen Kleinstadt. Er ist Anwalt, sie Lehrerin, die Kinder spielen Fußball mit ihren Freunden. Diese Idylle ändert sich schlagartig, als ihn eines Tages eine fremde Frau anspricht und verunsichert: Corrine habe Geheimnisse vor ihm, sagt sie. Woher sie davon wisse, woher sie ihn kenne und wer sie überhaupt sei, sagt sie nicht. Adam beginnt zu recherchieren, sieht die Vorwürfe bestätigt und spricht seine Frau auf eine einst erfolglose Schwangerschaft an, die möglicherweise gefaked war. Nach einem Streit und ihrer kryptischen Aussage, dass da mehr dahinter stecke, verschwindet Corrine.

Ein Leak privater Abgründe

Von jetzt an häufen sich die unerklärlichen Geschehnisse: Im Ort wird ein abgetrennter Alpakakopf gefunden. Im Wald entdeckt die Polizei einen bewusstlosen nackten Jungen, der am Vorabend mit anderen Teenagern an einer Silent-Disco-Lagerfeuerparty auf einer nahe gelegenen Lichtung teilnahm. Eine Café-Betreiberin wird erpresst, weil ihre Tochter ihre Begleit- und Sexdienste in einer einschlägigen App anbietet. Ein Nachbarsmädchen ist schwer krank, die Ärzte ratlos. Ein alter Freund von Adam will nicht aus der tristen Reihenhaussiedlung raus, die Adams Vater abreißen lassen will. Ihr seid schon jetzt verwirrt? Die Liste der Nebenschauplätze in „The Stranger – Ich schweige für dich“ ließe sich fortführen, und je umfassender die Erzählstränge in den insgesamt acht Folgen der Miniserie werden, desto lauter fragt man sich, wann und wie bitteschön all diese Fäden zusammengeführt werden. Milder Spoiler: Manche verlaufen ins Nichts beziehungsweise lösen sich mit der wirklichen Auflösung im Staffelfinale in Luft auf. Nebelkerzen eben.

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Während die auf einem anderen Harlan-Coben-Roman basierende Miniserie „Safe“ mit Michael C. Hall in der Hauptrolle ein eigentlich klassischer „Who did it?“-Thriller über eine verschwundenes Mädchen war, der zwischendurch eine schwarze Komödie sein wollte, stellt sich die Frage nach dem „Wer?“ in „The Stranger“ lange Zeit nur bedingt. Klar, wer diese mysteriöse Unbekannte ist, die nicht nur Adam, sondern auch weiteren Stadtbewohnern mit dem Leak von privaten Abgründen droht, würde man schon gerne wissen (und erfährt es auch irgendwann). Weil Corinne ihrem Mann aber eine SMS schrieb, in der sie um eine Auszeit und Ruhe bittet, dominiert anfangs viel mehr das Rätsel, wie viele neue Rätsel sich noch auftun, was zur Hölle der an Johnny Depp in „Fear And Loathing In Las Vegas“ erinnernde Drogentrip des Nachbarsohnes soll und wer kein Doppelleben führt.

Der gemeinsame Nenner beider Serien neben den Nebelkerzen: Nichts ist wie es scheint, und jeder hat so sein Geheimnis. Klingt einerseits nach einer Aussage, wie sie jeder zweiten Psycho- und Suspense-Thriller erzählt. Andererseits aber nach zwei Abenden kurzweiliger und kompakt geschriebener Bingewatch-Unterhaltung. Und eben das ist „The Stranger – Ich schweige für dich“ trotz oder wegen seiner zahlreichen WTF- und Over-The-Top-Momente durchaus geworden.

„The Stranger“ (dt. „Ich schweige für dich“), Staffel 1, acht Folgen, seit 30. Januar 2020 auf Netflix im Stream verfügbar

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