Tocotronic: Kühler Charme


Von wegen Fun! Die drei von Tocotronic sind doch nicht aus Spaß zum Interview erschienen. Und so redet man mit dem gebotenen Ernst über die neue Platte, deutschen HipHop und darüber, daß die Kollegen von Liquido "geschmacklich schon sehr bedenklich" sind.

KLEINE QUIZFRAGE VORAB GEFÄLLIG? JA?! BITTE schön: Eine „Hamburger Kultband“, die es schon mit ihrer zweiten Langspielplatte in die deutschen Top 50 geschafft hat, und das auch noch „ohne Verrenkungen“ – wer ist das? Richtig: Tocotronic. Und dann vielleicht doch nicht: Keinerlei Einwände gegen die Hitparadenplazierung, Hamburg geht auch klar, aber sonst – pfui Spinne! Kultband? Was für ein fieses Etikett, das haben Tocotronic nicht verdient, und „Verrenkungen“ gibt’s bei denen sowieso nicht. Immerhin: So stand es irgendwann 1997 zu lesen in einer Postille für Pop, Pickel und Petting, dafür hat der Schreiber garantiert Verrenkungen gemacht und glatt gelogen. Tocotronic sind keine Kultband. Tocotronic sind Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow, Bassist Jan Müller und Schlagzeuger Arne Zank. Und Tocotronic sind die, die ein ähnliches Image haben wie Fettes Brot, nur eben auf der Baustelle Indierock: Sie sind die Niedlichen. Und Tocotronic sind natürlich die sympathischen Schluffis, die uns seit ihrem 95er Debüt „Digital ist besser“ mit einem Outfit erfreuen, das komplett auf Kontinuität setzt: Haare ins Gesicht, Schlaghosen, in den man locker die Türme des Kölner Doms einwickeln könnte, Turnschuhe, T-Shirts und enge Trainingsjacken, gerne Modelle aus den 70ern. Tocotronic veröffentlichten ihre Produkte zunächst im Halbjahresrhythmus, und was immer auf die Langspielplatten draufgepreßt war: es funktionierte prächtig.

Dirk von Lowtzow präsentierte einen nuscheligen Nicht-Gesang, der oft im Instrumentarium verschütt ging und manchmal sogar darin begraben wurde. Daß Tocotronic auf deutsch singen, kriegten trotzdem ziemlich schnell eine Menge Leute mit, und sie nahmen es an. Und wie – ob LP-Titel wie „Wir kommen um uns zu beschweren“, Songs wie „Samstag ist Selbstmord“ oder haßerfüllte Punk-Kracher wie „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ – was Tocotronic fabrizierten, ging der Zielgruppe durch Mark und Bein, in Herz und Hirn und wurde oft für bare Münze genommen. So etwas ist natürlich gefährlich – vor allem für die Musiker. Man nahm Tocotronic wichtiger, als sie sich selbst; eine Situation, in der die drei fast schon eine Haushaltshilfe für ihr Leben gebraucht hätten, jemanden, der im Alltag die Dinge wieder zurechtrückt. Doch anscheinend hat das Trio die adäquaten Freunde – oder die drei haben’s allein hingekriegt. Jedenfalls hatten Tocotronic weiter Spaß bei der Arbeit, machten ein bißchen Radau und gaben die Antworten zwischendurch in ihren Songs mit Schlaumeiereien, mit denen sie sich selbst überholten. Zwei Beispiele: „Nach der verlorenen Zeit hab‘ ich erst mal weniger nachgedacht, vielleicht darüber, wie man neue Lieder macht“ heißt es in „Jetzt geht wieder alles von vorne los“, dem Opener des dritten Albums. Und auch in „Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“, einem Stück von der letzten Platte, wird clever reflektiert und der entscheidende Satz gleich nachgelegt: „Doch das ist leicht gesagt“. Widersprüche, die diese Gesellschaft nun mal reichlich in sich birgt, werden registriert, erkannt, aber nicht gleich kaputterklärt. Irgendwann ist’s auch mal gut mit dem Diskurs. Dafür wurden Tocotronic bisher geliebt, und dafür werden sie auch 1999 weiterhin geliebt werden.

CHELSEA HOTEL, KÖLN. DRAUßEN SPIELT DER FRÜHLING heute Sommer in der Stadt und drinnen, im Konferenzraum, steht ein Rauchglastisch von gigantischen Ausmaßen. Die Getränkeauswahl auf dem Rauchglastisch ist riesig und überhaupt ist so ein Rauchglastisch irre praktisch. Vor allem, wenn die drei Tocotronics um das Möbel herum sitzen und man ihnen ganz unauffällig auf die Füße gucken kann. Turnschuhe, na klar. Dirk von Lowtzow trägt das Modell Adidas Gazelle, kämpft erst mal mit seinen Schnürsenkeln und sieht dabei alles andere als sportiv aus. Was man ohne weiteres auch von den anderen beiden behaupten kann: Jan Müller und Arne Zank wirken ein bißchen wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Der Grund: Der Abend vor dem Tag danach. Und HipHop. Um genau zu sein: Deutscher HipHop. „Wir waren gestern bei dem Konzert von Eins Zwo und danach noch in einer Bar, es ist sehr spät geworden und heute dann den ganzen Tag diese Interviews“, erklärt Jan, „wir sind ein wenig übermüdet, aber eigentlich geht’s uns opti.“ Spricht’s, gießt sich ein Glas Orangensaft ein und guckt kurz nach rechts und links. Möglicherweise ein verabredetes Zeichen, denn Arne übernimmt: „Mir hat’s sehr gut gefallen, aber ich setz‘ das mal in Klammern, weil ich nur die aktuelle Single kenne und das Album noch gar nicht gehört habe.“ Dann Dirk: „Ich war gar nicht mit.“

DIE GITARRENBAND TOCOTRONIC AUF EINEM Konzert von Deutschlands HipHop-Hoffnung Nummer 1 als privates Ausgehverhalten sicherlich ein Spaß, als großes Ganzes etwas, das derzeit zweifellos auch unter der Überschrift „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ laufen kann. Alle Welt schwadroniert von deutschem HipHop, das Genre Indierock hat es schwer und muß sich aus unerfindlichen Gründen ständig rechtfertigen. Wie der große Bruder, der seiner kleinen Schwester an den Zöpfen zieht. Aber immerhin: Es gibt ja Tocotronic, und die haben Ende des Monats mit „K.O.O.K.“ ihr neues, mittlerweile fünftes Album am Start. Die Vorab-Single zur Platte ist schon seit Anfang Juni zu haben, liegt selbstverständlich auch auf dem Rauchglastisch und trägt den schön programmatischen Titel „Let There Be Rock“. Jan lugt zwischen diversen Saft-Flaschen hindurch, entdeckt das eigene Werk und ist baß erstaunt. „Mensch, guck mal, das ist ja noch eine davon! Da sind 3000 Stück von hergestellt worden, und 2000 wurden auf meinen Befehl wieder eingestampft. Dieser weiße Streifen da im ‚Let There Be Rock‘-Logo, der ist nicht richtig, und da sind auch noch ein paar andere kleine Fehler. Diese Version da, das ist die Blaue Mauritius von Tocotronic.“ Dem Fehldruck zum Trotz: Die Single rotiert seit Wochen heftig bei Viva Zwei und ist auch letztens in die erste Hälfte der deutschen Charts eingestiegen. Wobei vor allem ersteres ein wenig überrascht – immerhin hatten Tocotronic 1996 ein bißchen Streß mit dem Musiksender, als sie den ihnen zugedachten Viva-Preis „Comet“ auf offener Bühne höflich aber bestimmt ablehnten. Mit dem Etikett „jung, deutsch, erfolgreich“ wollten sie sich dann doch nicht schmücken lassen. Bei Dirk haben die Schnürsenkel gerade Pause, und deshalb ist er von jetzt an beim Thema: „Wir waren nie im Krieg mit Viva, das war nur das eine Mal und ist über die Jahre hinweg immer so’n bißchen falsch dargestellt worden. Wenn man Videos macht, ist es ja wohl klar, daß man sich mit dem Medium Musikfernsehen auseinandersetzt.“ Außerdem können die Menschen aus dem Musikfernsehen auch nett sein. Das lernten die drei am letzten Wochenende. Da spielten Tocotronic bei “ Rock am Ring und wurden von Viva Zwei-Moderatorin Charlotte Roche extra um ihr Okay gebeten, bevor sie mit „Verfickt noch mal, ‚Let There Be Rock‘ – hier sind Tocotronic“ angekündigt wurden.

Nicht ganz zufrieden war man offenbar mit anderen Programmpunkten: „Das war schon sehr mainstreamig“, findet lan. „Okay, da waren Acts, die man voll und ganz respektiert, Lauryn Hill und Metallica und so, aber…“. Dirk übernimmt nahtlos mit einem gepflegten Diss: „Liquido waren auch da. Zuerst fanden wir die ja einfach nur doof, aber seit ich das sexistische Video zu ‚Doubledecker‘ gesehen habe, in dem auch noch plump der Tanz aus ‚Pulp Fiction‘ paraphrasiert wird, dachte ich, jetzt ist der Ofen echt aus.“ „Liquido sind geschmacklich schon sehr bedenklich“ (Arne). Und schließlich alle zusammen: „Liquido finden wir Dreck.“ Den Clip zu ihrer eigenen neuen Single haben Tocotronic erstmals im Ausland aufgenommen, und der Dreh enthusiasmiert sie nachhaltig. Arne: „Wir haben das in Gibraltar gemacht, das ist ja englisch, und da laufen Bobbies rum“. Und Dirk hat dort gar etwas entdeckt: „An einem Zipfel gibt’s da einen Affenfelsen.“ Sieh an.

Neu bei Tocotronic ist Micha Acher, der Vorsitzende von The Notwist, der auf „K.O.O.K.“ Bläsersätze arrangiert und damit dezent und hübsch den einen oder anderen Klangtupfer gesetzt hat. „Micha ist vor zwei Jahren auf uns zugekommen, bei einem Konzert“, erzählt Dirk, „wenn ich das mal so launig formulieren darf: Er war sturzbetrunken und meinte großspurig, er könne alles – wenn wir mal Arrangements von ihm haben wollen, sollen wir uns melden.“

Satte zwei Jahre haben sich Tocotronic diesmal für das Album Zeit gelassen, im Vergleich zu früher eine Ewigkeit. Arne klärt auf: „Die Knochen wollen nicht mehr so.“ Logisch, daß Kollege Jan bei altersbedingten Ermüdungserscheinungen Bescheid weiß: „Du mußt auch mehr trinken, hier den Orangensaft, da ist ganz viel Calcium drin.“ Womit dann wieder der Rauchglastisch mit dem Getränkesortiment im Rennen ist und eigentlich alles klar wäre. Bleibt noch eine Frage: Was macht das Image, ihr seid doch die sympathischen Schluffis, die Niedlichen, oder? Dirk beschäftigt sich noch mal mit seinen Schnürsenkeln und ist dann empört: „Schluffis, das setzt doch voraus, das man gediegen abhängt. Das haben wir nie akzeptiert, weil wir immer eine der hartarbeitendsten Bands in der ELI waren“. Dann grummelt er in Richtung Turnschuhe: „Niedlich, das ist natürlich eine andere Geschichte, da spricht ja nichts dagegen.“