Verkannte Kunst (4): TicTacToe waren die wahren Pionierinnen, die angeblich SXTN waren


In der vierten Ausgabe von „Verkannte Kunst“ schrieb Julia Lorenz über die Pionierinnen der motzigen Girlgroup: Tic Tac Toe.

Seit Mai hatte unser Enfant terrible Linus Volkmann hervorragende Unterstützung an seiner Seite – und seine Hater eine Verschnaufpause: Die Popkolumne, die er seit Anfang 2019 wöchentlich für uns schreibt, schrieb Linus fortan nur noch zweimal pro Monat, im Wechsel übernahm ME-Autorin Julia Lorenz. Die hat Anfang Februar 2020 ihr Zepter leider niederlegen müssen. Zum Glück bleiben uns ihre Texte aber erhalten.

Während Linus sich regelmäßig über sogenannte „Verhasste Klassiker“ hermachte, entgegnete Julia ihm mit ihrer Rubrik „Verkannte Kunst“. In der vierten Ausgabe ihrer Kolumne vom 4. Juli 2019 ging es um Jack Whites angebliche Heroinsucht, Lil Nas X‚ Coming Out, Sleater-Kinneys Schlagzeugerin und TicTacToe – die deutsche Girlgroup, die schon vor 25 Jahren die Pionierarbeit leistete, die fälschlicherweise SXTN zugesprochen wird.

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Verkannte Kunst (4): Tic Tac Toe

Geblieben ist natürlich das hässliche Ende. Die Pressekonferenz vom 21. November 1997, auf der sich TicTacToe auf ewig in die deutsche Popgeschichte eingemotzt haben. Die verdammte Pressekonferenz, auf der die damals größte deutsche Girlgroup nach Streit-Gerüchten Einigkeit demonstrieren wollte, wurde ihr zum Verhängnis: Vor laufender Kamera bepöbelten sich Ricky, Jazzy und Lee bis zum Äußersten („Jetzt kommen die Tränen wieder auf Knopfdruck!”) – dann war fürs Erste Schluss mit TicTacToe.

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Das war sie also, die hässliche, verflennte Seite des motzigen Girlietums, das TicTacToe ein paar Jahre lang so mustergültig repräsentiert hatten. Da demontierten sich drei Gören, die in ihren Lyrics gern ausgiebig um sich traten, vor den Augen der Welt selbst: Es muss die größte Genugtuung für die Gegner*innen des Trios gewesen sein. Denn die waren schlichtweg noch nicht bereit für sie gewesen.

Die Musikmanagerin Claudia Wohlfromm hatte sich TicTacToe ausgedacht. Den drei jungen Künstlerinnen Marlene Victoria Tackenberg, Ricarda Wältken und Liane Wiegelmann verpasste sie die crazyfunky Namen Jazzy, Ricky und Lee und brachte sie als deutsche Antwort auf die Spice Girls in Stellung – und das, zumindest für ein paar Jahre, irrsinnig erfolgreich. Sicher: Der neonschlumpfige Girlpop-Rap-Sound von TicTacToe lässt einen heute natürlich so ratlos zurück wie viele Mode- und Pop-Produkte der Neunziger.

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Auch ist’s müßig zu diskutieren, ob das nun lupenreiner Rap war, was die drei da veranstalteten, ob sie wirklich so unabhängige, aufsässige Bad Girls waren oder doch nur gute Bad-Girl-Darstellerinnen; aber man muss, jenseits von ästhetischen Fragen, schon anerkennen, was das Trio seinen Fans vermittelte: dass man als Mädchen ganz laut „Verpiss’ Dich” sagen darf, sogar “Ich find’ Dich scheiße”, und dabei verdammt viel Spaß haben kann. Im Song „Leck mich am A, B, Zeh“ ging es um Verhütung, in ihrem Hit „Warum” um den Drogentod einer Freundin: Alles so Dinge, über die man sich mit 14 lieber was von drei gepiercten Girls als von verklemmten Lehrern erzählen lässt.

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Wenn man also heute Acts wie SXTN (R.I.P.) als Pionierinnen preist, als mutige Vorkämpferinnen, die in einer männerdominierten Branche die Klappe weiter aufreißen als ihre Kollegen, tut man TicTacToe Unrecht: Sie haben das schon getan, als die Presse noch keine Lust hatte, Behauptungen wie „Ich ficke deine Mutter ohne Schwanz” auf ihren feministischen Gehalt abzuklopfen. Sondern sich lieber darauf stürzte, dass Lee mal in einem Bordell gearbeitet hat.

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Das erste Album nach der berühmten Pressekonferenz nannte die Band in bemerkenswerter Einfalt IST DER RUF ERST RUINIERT…, das Comeback-Album aus dem Jahr 2006 schlicht, nunja, COMEBACK. Zu ihren Neunziger-Erfolgen kehrten TicTacToe nie zurück. Vielleicht ist es nicht mal ein Verlust, dass TicTacToe nur ein kurzer Ruhmesmoment in der Popgeschichte beschieden war; die Geschichte sollte dennoch fairer mit ihnen umgehen.

Denn während es die Spice Girls irgendwie geschafft haben, vom Plastikpop-Phänomen zu Botschafterinnen der Girlpower umgedeutet zu werden, gelten TicTacToe bis heute als ultimatives „guilty pleasure”, als peinlich, zickig, nervig. Weil sie peinlich, zickig und nervig waren – selbstbewusst und selbstverständlich. Gebraucht hat die Welt das schon.

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Dieser Text erschien zuerst in Folge 24 unserer Popkolumne:

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