VON DER ERFINDUNG EINER BAND


Geradezu unwirklich hell leuchtet die Betonlandschaft am Berliner Alexanderplatz an diesem Vormittag im sonst so nassen Monat Mai. Den Blick auf den Fernsehturm, dessen silberne Auswölbung sich wie eine funkelnde Discokugel vom wolkenlosen Himmel abhebt, hält man ohne Sonnenbrille nur ganz kurz aus. Dann doch lieber die Augen schonen und schnurstracks auf den Plattenbau mit dem schönen Namen „Haus des Reisens“ zuhalten, wo zu DDR-Zeiten Urlaubsreisen an den Plattensee genehmigt wurden. Heute ist hier mit dem „Weekend“ einer der beliebtesten Clubs der Stadt zu Hause. Aber auch Moderat haben hier ihr Studio. Der Dreier, seit seinem selbstbetitelten Debüt von 2009 so etwas wie die „Supergroup“ der deutschen Elektronikszene, hat zum Hausbesuch geladen, um über das neue Album II zu sprechen.

„Supergroup“. Böses Wort. Thom Yorke, der hier auch noch eine kleine Rolle spielen wird, hat vor einiger Zeit, wenngleich eher scherzhaft, verlautbaren lassen: Demjenigen, der dieses Wörtchen in Bezug auf sein prominent besetztes Seitenprojekt Atoms For Peace ausspricht, würde er die Zähne ausschlagen. Unangenehme Vorstellung. Und auch eine ungerechte Androhung, denn betreibt man ein wenig Hobbylateinerei, zeigt sich schnell: superare =übertreffen, überragen, einfach verdammt noch mal besser sein als die anderen. Gut, vielleicht mag sich in diesem Zusammenhang nicht erst seit Crosby, Stills &Nash begrifflich so einiges verschoben haben, aber mit dem umwerfenden Breitwand-Sound ihres ersten Albums hat zumindest die Supergroup Moderat in der Tat vieles übertroffen, was sich im weitesten Sinne unter dem Begriff „Intelligent Dance Music“ versammelt – vielleicht sogar sich selbst.

Moderat, das ist sowohl die Fusion zweier Begriffe als auch jene der beiden musikalischen Projekte, die hinter diesen Begriffen stecken. Da sind zum einen Modeselektor in Person von Gernot Bronsert und Sebastian Szary, sowie zum anderen Apparat in Person von Sascha Ring. Die drei von Moderat also stehen, als man zur Tür hereinkommt, vor einem Fenster in einem schwarz ausgekleideten Raum, der sich im zwölften Stockwerk besagten Plattenbaus befindet, und lassen sich dort fotografieren – ein paar Minuten soll es noch dauern, heißt es. Zeit also, die drei Helden dieser Geschichte und ihre Zusammenarbeit als Moderat vorzustellen:

Zum ersten Mal traf das Duo Gernot Bronsert und Sebastian Szary irgendwann im Jahr 2001 im Rahmen einer der ersten „Bärenmarken“-Partys, wo sich damals die bunte Berliner Labellandschaft zu präsentieren pflegte, auf Sascha Ring. Oder besser: Sascha Ring, erst zwei Jahre zuvor aus Quedlinburg im Harz nach Berlin gezogen und bisher mehr in seinem Studio weggeschlossen als im Großstadtnachtleben unterwegs, lernte dort eine ganze Schar Berliner Szenegrößen kennen: Neben Ellen Allien, DJane und Chefin des 1999 gegründeten Labels Bpitch Control, wären da vor allem die Grafiker und Videokünstler der „Pfadfinderei“ zu nennen, die heute für die visuelle Gestaltung der Moderat-Liveshows verantwortlich zeichnen – und eben auch Gernot Bronsert und Sebastian Szary, die damals bei Bpitch Control unter Vertrag standen und an diesem Abend einen ihrer ersten Liveauftritte als Modeselektor gaben.

Man kann in Bezug auf diese erste Begegnung der Projekte Modeselektor und Apparat durchaus von so etwas wie Liebe auf den ersten Blick sprechen, derart groß fiel die wechselseitige Begeisterung für die Musik des/der jeweils anderen aus. Und doch wirkt diese spontan entflammte Liebe sehr erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass damals zwei Projekte aufeinandertrafen, die musikalisch nicht weiter entfernt voneinander sein konnten. Hier Modeselektor, die mit ihrer ebenso brachialen wie spaßfördernden Party-Mixtur aus Glitch-Sounds, Elektro und HipHop bassmassierend jeden Club in seine Einzelteile zerlegen und die Kunst des „Die-Leute-auf-der-Tanzfläche-durchdrehen-Lassens“ auch auf Riesenfestivals zur Perfektion treiben. Dort Apparat, der mit gravitätischen Klängen den Blick nach innen richtet, Atmosphären aufeinanderschichtet, elegische Sound-Panoramen entfaltet, und so Shoegaze- und Dream-Pop-Traditionen in den Bereich der IDM überführt.

Gleicht man den Stil dieser beiden Acts ab, wirkt eine Zusammenarbeit auf den ersten Blick in etwa so schlüssig wie eine gemeinsame Sache zwischen Rammstein und den Cocteau Twins – wie also fügen sich diese beiden Komponenten zusammen? Anfangs tatsächlich nicht besonders gut: Nach einigen improvisierten Liveauftritten als Moderat geriet der erste gemeinsame Studiobesuch im Jahr 2002 derart aufreibend und erschöpfend, dass man nach einer EP erst mal eine Auszeit voneinander nahm. „Im Nachhinein fühlt sich unsere erste Zusammenarbeit damals ein bisschen wie ‚im Sandkasten spielen‘ an“, sagt Sascha Ring.

Wir sitzen jetzt im Moderat-Studio, wo die drei auf einer Couch fläzen und Sebastian Szary mit Studiohund Ilona kuschelt. Ein enger Raum ist das, vollgestopft mit Produktionsgerätschaften. Eine Pfandflaschensammlung steht in der Ecke, ein Fahrrad lehnt an der Wand. Aus dem Fenster blickt man weit hinaus auf diese verrückte Stadt Berlin. Man spürt, dass hier in den letzten Monaten einiges passiert ist, dass hier gelebt wurde. Oder konkreter: gearbeitet, pausiert, geraucht, getrunken, gegrübelt, diskutiert und wieder gearbeitet wurde. Was man nicht spürt: Dass sich hier in den vergangenen Monaten auch ein Dreiergespann elektronikverrückter Musiknerds konzeptuell komplett neu erfunden hat – als Band!

Doch der Reihe nach: Nachdem sich die Wege der beiden Moderat-Komponenten trennten, brauchten Modeselektor drei weitere Jahre, um 2005 ihr erstes Studioalbum, HELLO MOM!, zu veröffentlichen. Eine Platte, die vor musikalischer Urgewalt nur so strotzte. Und gewissermaßen auch eine Art Initialzündung für alles, was dann folgen sollte, denn an dieser Stelle klinkt sich der Mann mit der Aversion gegen die Begrifflichkeit „Supergroup“ noch einmal in diese Geschichte ein. In einem Interview mit Charlotte Roche für deren VIVA-Sendung „Fast Forward“ geriet Thom Yorke erstmals in Schwärmen: „Es gibt da diesen Typen mit dem Namen Modeselektor. Sein Zeug ist der Shit schlechthin!“ Bald klärte sich auf, dass das eigentlich zwei Typen sind, die diesen heißen Scheiß produzieren, Yorke bot seine Stimme im Tausch gegen einen Remix an, es folgte die Zusammenarbeit „The White Flash“, man blieb in stetigem Kontakt, und auf einmal standen Modeselektor 2008 als Vorgruppe für Radiohead vor bis zu 20 000 Konzertbesuchern auf riesigen Bühnen.

Derweil wurde Sascha Ring als Apparat 2004 die Ehre zuteil, von Radiolegende John Peel, wenige Monate vor dessen Tod, zu einer der „Peel Sessions“ eingeladen zu werden. Seinen ambient-shoegazigen Traumlandschaften verlieh er immer komplexere und aufwendigere Strukturen: Ring entdeckte sein Stimmtalent und integrierte Cellos und Violinen in seinen musikalischen Kosmos. 2007 mündeten diese Entwicklungen in seinem dritten Album, WALLS, eine atemberaubend schöne wie vielschichtige elektronische Elegie, mit der sich das Projekt Apparat musikalisch auf ein neues Level erhob.

Unser Debütalbum ist eigentlich relativ spontan entstanden“, erinnert sich Sascha Ring. „Das lief nach dem Motto: ,Wir treffen uns jetzt mal, laden ein paar Leute ein, und haben alle großen Spaß dabei.‘ Letztlich wurde das Album eher eine Art Compilation, die auf ,Songleichen‘ basierte, also Stücken, die wir mit unseren eigenen Projekten nicht fertig bekommen haben.“ Diesen „Songleichen“ hauchten Moderat eine Menge Leben ein. Bereits mit dem Eröffnungsstück „A New Error“ wird auf dem Fundament eines mächtigen Wobblebass-Massivs eine solch majestätische Breitwand-Rave-Hymne zusammengesponnen, dass auch der ärgste Elektronik-Abstinenzler realisieren dürfte, was für Reize diese Musik bieten kann: Kraft. Eleganz. Atmosphäre. Da versteht man gut, wovon Sebastian Szary spricht, wenn er im Interview mit Begriffen wie „Klangliche Räume“, „Perfektion“, „Raum“ und „Tiefe“ hantiert. Derart ausgereift und durchdacht wirken diese Stücke, dass man sie eher als Kompositionen denn, wie in der elektronischen Musik üblich, als „Tracks“ bezeichnen möchte. Kompositionen, die sich im Rahmen der Liveshows mit den visuellen Untermalungen der Pfadfinderei – berstender Beton in Slow Motion, glitzernde Wasseroberflächen, scharfk antige Formen in Bewegung – zu einem Fest für die Sinne verbanden. Das kam beim Publikum derart gut an, dass aus geplanten drei Monaten Moderat-Tour schließlich drei Jahre Weltreise wurden.

Jetzt steht die Veröffentlichung des Nachfolgers II an, und es hat sich einiges verändert im Moderat-Kosmos. Das beginnt schon bei den Arbeitszeiten: Da sich die Familienväter Bronsert und Szary bei der Produktion von II weigerten, wie beim Debüt überwiegend nachts zu arbeiten, wurde Nachtmensch Sascha Ring regelrecht dazu gezwungen, seinen Rhythmus zu ändern. So berichtet Bronsert: „Wir haben uns immer morgens getroffen und gearbeitet. Dann gab es eine Pause, in der Szary seine Tochter von der Musikschule abholte, und ich meine Kinder vom Kindergarten – und abends ging es dann noch mal ins Studio.“ Zeitmanagement statt kreativem Wegschließen, das sei die Ansage gewesen – und das habe durchaus an den Kräften gezehrt. Um zehn Jahre, so sagt Bronsert, sei man während der Arbeit gealtert.

Deutlich weniger Fragmente wurden auf II als Basis genutzt, auf Gastsänger gleich ganz verzichtet, und auch ihren prägnanten „Punch“ schraubten Moderat ein wenig herunter. „Wir haben uns zwar intensiv Gedanken gemacht, wie wir an das Album herangehen, hatten aber irgendwann keine Kontrolle mehr darüber, wohin wir uns tatsächlich bewegen. Da kam Sascha, den wir sehr intensiv zum Singen aufgefordert haben, mal mit einem Text an, mal steuerte ich eine Bassline oder Szary einen Beat dazu – das war ein Prozess, der sich sehr stark nach Band anfühlte“, sagt Bronsert.

Neuerfindung mittels Kontrollverlust also. Mit großartigem Ergebnis: Eine Band schreibt üblicherweise Songs, und so hören wir auf dem Album II zwar einige Moderat-typische Tracks, freuen uns aber auch über eine Verlagerung hin zu mehr Songstrukturen, mehr Gesang, mehr Homogenität, mehr Empfindsamkeit, sprich: mehr Pop. Sieht das die Band genauso? Sascha Ring sagt: Erwähnter Punch sei geblieben. Nur weniger plakativ. Gernot Bronsert grinst und enthält sich einer genaueren Definition. Nach einer Pause sagt er: Für ihn klinge II wie ein „tiefes Gespräch zwischen Sound und Stimme – zu ein paar Gläsern Rotwein“. Na dann: Cheers!

Albumkritik S. 77