Wo ist da der Hit?


Elvis Presley, Michael Jackson, Britney Spears: Das klingt wie eine Liste von Leuten, die eine Menge großer Hits gesungen haben. In Wahrheit ist es aber eine Liste von Leuten, die eine Menge großer Hits nicht gesungen haben. Eine kleine Kulturgeschichte der verfassten Songs und verpassten Chancen.

Andere Gedankenspiele sind da durchaus attraktiver. Nehmen wir zum Beispiel an, Michael Jackson wäre Ende der 90er-Jahre noch uneingeschränkt entscheidungsfähig gewesen. Also wirklich nur angenommen. Hätte er dann doch „Rock Your Body“ aufgenommen, das The Neptunes zuerst ihm anboten, statt der generischen Plastikschmonzetten der in Ehrfurcht erstarrten und von panischen A&Rs weichgekochten R’n’B-Großmeister Darkchild und Teddy Riley, die ihm anscheinend besser gefielen? Wäre Invincible dann Justified, also vielleicht sogar gerechtfertigt gewesen? Hätte MJ gar das Superdupermega-Comeback des Jahrtausends hingelegt? Und umgekehrt: Hätte Justin Timberlake – damals formell ja nicht mehr als ein Ex-Mitglied von ’N Sync sowie eine Ex-Bekanntschaft von Britney Spears – dann trotzdem ähnlich gutes Songmaterial von Timbaland und Pharrell bekommen, nachdem die ihre gesamte A-Ware an den Mann, pardon: den Mann gebracht hätten? Wäre er trotzdem der größte Entertainer seiner Generation geworden, oder wäre er einfach nur der Typ aus dem „Mickey Mouse Club“ geblieben, der allen Ernstes mit seiner Band einmal ein Lied mit dem Titel „Space Cowboy (Yippie-Yi-Yay)“ aufnahm? Gäbe es dann Justin Bieber? Gäbe es dann Twerk-Videos von Miley Cyrus? Gäbe es dann einen Song von Katy Perry und Juicy J, der – dazu nur so viel – nicht etwa deswegen Juicy J heißt, weil er zum Frühstück gern grüne Smoothies trinkt?

Tina Turner performs on stage with Ike and Tina Turner in Amsterdam, Netherlands, 1971. (Photo by Gijsbert Hanekroot/Redferbs)
Tina Turner – „What‘s Love Got To Do With It?“ Geschrieben von: Terry Britten und Graham Lyle Abgelehnt von: Donna Summer Donna Summer erklärte einmal, sie habe den Song jahrelang in der Schublade gehabt, aber halt nie aufgenommen. Sie hatte vermutlich Besseres zu tun, zum Beispiel so unfassbar toll und die Königin der Disco zu sein.

Man weiß es nicht. Aber es macht Spaß, einfach mal draufloszuspekulieren. Und sich dann Madonnas „La Isla Bonita“ anzuhören, das Michael Jackson ebenfalls nicht wollte. Jackson und Justin Timberlake sind Naturtalente, wie sie vielleicht alle zwanzig Jahre einmal auftauchen. Ihre Ausstrahlung und ihre schiere Fertigkeit als Unterhalter traditionellen Zuschnitts sind größer, als jede Harmonieführung und jede Hook es je sein könnten. Den Verlauf ihrer Karrieren an einer einzelnen A&R-Entscheidung festzumachen ist also ein gewagtes Gedankenexperiment, wenn nicht blanker Unfug. Aber ob es von Sophie Ellis-Bextor wirklich so klug war, „Can’t Get You Out of My Head“ abzulehnen? Ob „S.O.S.“ nicht auch einer gewissen Christina Milian sehr gut zu Gesicht gestanden hätte?

Diese Anekdoten veranschaulichen vor allem eines: Songwriter sind die wahren Motoren der Musikindustrie. Fähige Produzenten gibt es dank der digitalen Pluralisierung der Studiotechnik längst mehr als genug, und auch an motivierten Sängerinnen und Sängern hat es selten gemangelt. Doch das Talent, einen echten Hit zu Papier zu bringen, zumal einen, der sich nicht nur zwei-, dreimal, sondern viele Male reproduzieren lässt, ist rar. So kommt es, dass der eigentlich monströse Markt der Formatradio-Befüllung unter erstaunlich wenigen Songschreibern aufgeteilt ist. Einige wenige echte Powerplayer, wie Dr. Luke, Ryan Tedder, Bonnie McKee, die genannte Sia Furler oder der legendäre Schwede Max Martin, steuern einen Großteil der „Billboard“-Buster bei. Dazu kommen Genre-Spezialisten wie The-Dream, Tricky Stewart und natürlich David Guetta sowie all die anderen Einzelunternehmer der EDM, die sich ihre eigene Milliardenindustrie geschaffen haben und deswegen immer öfter auch von den Majors konsultiert werden, wenn es darum geht, einen möglichst sicheren Hit heimzufahren. Lange wurde in dieser Reihe noch die ehemalige Lead-Sängerin der 4 Non Blondes, Linda Perry, genannt. Dabei hatte die letztlich nur zwei echte Hits, und zwar ganz zu Anfang ihrer Zweitkarriere als Songschreiberin: „Get The Party Started“ mit Pink und „Beautiful“ mit Christina Aguilera. Schon das zeigt deutlich: Sehr viel mehr gibt es da nicht. Selbst Stars, die eigentlich einer real existierenden Szene oder kulturellen Bewegung entstammen, wie Maroon 5, Robyn oder der Grime-MC Dizzee Rascal, werden früher oder später zu einem der Großwesire geschleift, wenn aber wirklich mal richtig durchgestartet werden soll. Die Nachfrage ist riesig, das Angebot naturgemäß begrenzt – auch Fließbänder haben schließlich eine Höchstgeschwindigkeit. Da wiegen Fehltritte und verpasste Chancen umso schwerer: Pink hätte vermutlich besser mitgemacht, als Max Martin und Dr. Luke ihr „Since U Been Gone“ anboten …

Gijsbert Hanekroot Redferns