Immer am Zug


Parallel zu seinem Engagement bei R.E.M. betätigt sich Michael Stipe als Filmproduzent. Sein jüngstes Projekt, „"Velvet Goldmine", kommt im Herbst auch in die deutschen Kinos.

Wir haben eine neue Platte aufgenommen, die im Oktober erscheint. Mehr gibt es über R.E.M. nicht zu erzählen“, blockt Michael Stipe alle möglichen Fragen zu seiner Band ab. Er steht zwar für Interviews bereit, spricht aber nur über seine Rolle als Filmproduzent. Das hat seinen Grund. Stipe stellt den ersten Film seiner neuen Produktionsfirma „Single Cell“ vor: Todd Haynes‘ mit großer Spannung erwartete Glam-Rock-Saga „Velvet Goldmine“. Eine aufregend-radikale, in Form eines Science-Fiction-Märchens gestaltete Annäherung an Bowies Album „Ziggy Stardust“ verbrämt mit der wenig kaschierten Liebesgeschichte zwischen Bowie und Iggy Pop,die im unvermeidlichen „Rock ’n‘ Roll Suicide“ endet. Obwohl R.E.M. mit „Monster“ vor vier Jahren selbst Glamerfahrungen sammelten, verzichtet Stipe auf das exaltierte Auftreten eines Glamstars. Gewandet in augenschädigendes Sanyassin-Orange und mit ein wenig modischem Glitter um die müden Augen fällt er in der Halle des altehrwürdigen Carlton Hotels in Cannes, inmitten der Chanel-Taschen, Versace-Kostüme und Cohiba-Zigarren, dennoch auf, und zwar ähnlich wie die paradiesvogelartigen Helden in dem von ihm produzierten Film. „Auf Glamrock wurde ich durch den Punk aufmerksam, weil Bands wieTelevision, Patti Smith und die Sex Pistols allesamt die New York Dolls als großen Einfluß nannten. Die sexuelle Komponente sprach mich als Jugendlichen sehr, sehr direkt an. Glamrock hatte nichts mit dem Machismo der gängigen Rockmusik der Seventies zu tun, die ich als unanhörbar empfand. Bands wie Styx, Rush oder Ted Nugent sprachen mich wirklich nicht an“, erklärt Stipe seine Affinität zu dem Thema Glam, um gleich mehrmals zu erklären, daß Regisseur Todd Haynes, Schwerstintellektueller und bekennender Homosexueller, sein absoluter Lieblingsfilmemacher ist.

Seit neun Jahren gönnt sich der Songwriter Michael Stipe die Freiheit, jene freie Zeit, die er nicht mit Fotografieren verbringt, der Produktion von Filmen zu widmen. Seit 1989 leitet er in New York die Firma C-100, die sich die Herstellung von kleinen, provokativen Filmen zur Aufgabe gemacht hat. Von ihnen hat es nur „Girls Town“ nach Deutschland geschafft/ohne aber auf ein großes Publikum zu stoßen. Doch der Blockbuster-Erfolg ist auch nicht Stipes‘ primäres Anliegen als Filmschaffender: „Ich hatte immer viele Freunde in der Filmbranche, Schauspieler und Regisseure, die sehr frustriert waren von den Möglichkeiten und den ihnen angebotenen Stoffen. Ich war bestürzt über die Situation und die unnütze Verschwendung von Talent. Etwas naiv dachte ich, daß es nicht so schwer sein könnte, eine Produktionsfirma aus der Taufe zu heben und Film zu machen, die nicht scheiße sein sollten.“ Was die Frage aufwirft, was genau eigentlich beschissene Filme sind. Stipe, klar, kennt die Anwort: „Fast alles, was auf den Markt kommt, zumindest aus Hollywood. In den USA sieht’s finster aus. Filme wie ‚Godzilla‘ haben ihren festen Platz. Es ist ein großer, dummer Film. Das ist kein Verbrechen. Sehe ich mir selbst auch ganz gern an. Aber für einen Filmemacher ist so etwas sicherlich nicht der geeignete Katalysator, seine kreativen Bedürfnisse ausgedrückt zu sehen. Man darf nicht vergessen, daß es da draußen in der Welt viele kreative Leute gibt, die keine Chance haben, ihre Vision einem Publikum vorzustellen. Ich hoffe, dazu beizutragen, daß sich das ändert.“

Die Gründung von Stipes zweiter Produktionsfirma vor vier Jahren könnte zumindest einen Teil dazu beitragen. Die Aufgabe von „Single Cell“ ist laut Stipe klar umrissen:“die Herstellung von Hollywood-Spielfilmen“, und „Velvet Goldmine“ dürfte die Linie im großen und ganzen vorgeben: Hollywood, was Budgets anbetrifft, aber nicht, was die Auswahl der Stoffe angeht: „Die Drehbücher müssen smart und gut geschrieben sein. Ich möchte meine Zeit nicht mit albernem Zeugs vergeuden. Wenn man all die Drehbücher liest, die kursieren, dann stellt man sehr schnell fest, daß die meisten spätestens am Schluß drastisch abbauen. Es ist da wirklich nicht allzu schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen, wie man so sagt. Allzu viel Weizen gibt es nicht, aber sehr viel Spreu.“ Stipes ungebrochen guter Ruf, sich bei Geschäftlichem nicht auf die üblichen Spiele der Industrie einzulassen, hat ihm in der haiverseuchten Filmbranche viele Türen geöffnet. Allzu schwer fällt es dem notorisch mißtrauischen Sänger jedoch nicht, den nötigen Abstand zur Industrie zu wahren:“Das ist einfach – don’t believe the hype. Schwierig wird es, wenn es um die Finanzierung geht, denn dann muß man seinen Abstand aufgeben und mitten rein in die Höhle des Löwen. Als Künstler fällt es mir dabei nicht schwer, die Aufmerksamkeit dieser Leute zu gewinnen. Sie dann dazu zu bringen, ihre Unterschrift unter die Schecks zu setzen -das allerdings ist ein ganz anderes Thema. Das ist der unangenehmste Teil des Ganzen, weil man vor Leuten auf die Knie gehen muß, vor denen man womöglich nicht allzu viel Respekt hat.“

Es ist ein gewagter Drahtseilakt zwischen Kunst und Kapitalismus, auf den Stipe sich mit seinen Filmprojekten eingelassen hat. Und gerade der Besuch eines Festivals vom Kaliber Cannes, wo an jedem zweiten Tisch Millionendeals abgeschlossen werden, während ein kleiner Kreis von Kreativen immer noch auf große Kunst hofft, hilft kritischen Geistern, wachsam zu bleiben. Und Stipe weiß sehr wohl, daß Wachsamkeit das Gebot der Stunde ist:“Das Musikgeschäft ist korrupt und einfach zum Kotzen, aber das Filmgeschäft ist noch tausendmal schlimmer.“ Der Kampf um Filme, meint Michael, die aus dem Rahmen fallen und Neues bieten sein ebensowenig verloren ist wie die Hoffnung auf aufregende, neue Musik:“Es gibt tolle Filme in Amerika.’Velvet Goldmine‘ oder‘ Happiness‘ von Todd Solondz, beide in Cannes gelaufen, sind perfekte Beispiele dafür. Im vergangenen Jahr habe ich viel Zeit in London und New York verbracht. Beide Städte brodeln nur so vor Energie, vor positiver Aufregung und Kreativität. Die Menschen dort stecken voller Ideen und kommunizieren miteinander. So entsteht ein spannendes Gemisch. Sowohl Film als auch Musik erleben eine Hochphase. Wobei ich glaube, daß die wirklich gute Musik zur Zeit noch niemand hört, mal abgesehen von meiner eigenen Band, natürlich.“