Mein Leben mit House


Ein Mann und seine Musik. Endlose Klangschleifen aus Chicago versprechen Ekstase, Sünde und Erlösung. Aus der Faszination für zusammengekloppte Tracks wird eine Leidenschaft über Dekaden. Der DJ und Produzent Hans Nieswandt über ein musikalisches Prinzip zwischen Underground und Superclubbing.

„House ain’t all that complicated…“ (Brothers Vibe)

„House is as new as the microchip and as old as the hills.“ (Stuart Cosgrove)

House war nach Punk die letzte Musik, die mich grundsätzlich und nachhaltig geprägt hat. Vielleicht weil ich House immer, ähnlich wie Punk, nicht so sehr als Stil, sondern mehr als Prinzip verstanden hatte. Ich mochte immer schon die Idee einer primitiven, unwiderstehlichen Tanzmusik, archaisch wie Blues oder Reggae, frei wie Jazz, erhebend wie Gospel und direkt wie Punk. Die ersten Chicago-Tracks, viele der heutigen Klassiker, waren ultrabillig und ratzfatz zusammengekloppt. Es ging um den rohen Ausdruck und nicht um maßlose Verfeinerung. House zu produzieren ist heute zwar gewiss nicht teurer als früher, eher sogar noch viel billiger, weil man im Grunde nur noch einen Rechner und einen Kopfhörer braucht. Doch durch die unfassbar gesteigerte Computerkraft klingen jetzt auch Schlafzimmerproduktionen wie atemberaubend kristalline Klangkathedralen und haben Schubkraft wie Rennboliden – dahinter steckt de facto eine endlose Frickelarbeit, wie sie mich am Musikmachen noch nie wirklich interessiert hat und was man meinen Tracks wohl auch anhört.

Obwohl ich früher schon in Bands Gitarre gespielt und Lieder geschrieben hatte, hat mich am Housetrack-Produzieren weniger die Möglichkeit des Songschreibens begeistert, sondern vor allem das Samplen. Als DJ und Musiksammler fand ich die Ende der 80er-Jahre greifbare Möglichkeit, „beste Stellen“ zu etwas Neuem und möglichst auch DJ-tauglichen zu verwursten, endlos unterhaltsam. Das geht mir in der Tat bis heute so. Und deshalb mach ich auch so gerne Remixe. Man bekommt quasi einen Sampling-Vorschlag und dazu noch jede Menge hochwertiges Quellenmaterial in Einzelspuren frei Haus. Und dann kann man sich darin stundenlang kontemplativ versenken – eines der wichtigsten Charakteristika von House.

Denn die ganze Herrlichkeit von House basiert ja auf Loops, auf sich ständig wiederholenden, hypnotischen Rhythmusmustern. Und wie eine endlose Klangschleife loopt sich House nun schon seit um die 30 Jahre durch die Musikgeschichte. Aber vielleicht existiert House ja auch schon viel länger, seit 30 000, seit 300 000 Jahren, wer weiß das schon – wann immer halt die erste Trommel bespannt und in einem dumpfen Dancegroove geschlagen wurde …

Am Anfang wusste jedenfalls niemand in Deutschland, wie lange es diese Musik eigentlich schon gab. Auf meinem Radar tauchte der Begriff immerhin erstmals Ende 1986 auf, aber ich war ja auch intensiver Leser hochspezialisierter Underground-Musikzeitschriften. Doch das Warehouse in Chicago, von dem der Musikstil einst seinen Namen erhalten hatte, existierte da schon seit ungefähr zehn Jahren. Allerdings wurden erst Mitte der 80er-Jahre die ersten Schallplatten mit explizit so genannter House Music überhaupt produziert, fanden dann aber auch schnell ihren Weg ins europäische Bewusstsein. Um jedoch vorher davon hören zu können, hätte man schon tief in die schwule, schwarze Subkultur der Southside von Chicago eintauchen müssen, was zumindest für mich als Teenager vom Bodensee Ende der 70er-Jahre einigermaßen unwahrscheinlich war.

Damals war ich eine Art kleiner Punker, der sich aber bald, angeregt durch die bunte Vielfalt der prächtig sprießenden Postpunk-Blüten, für das Prinzip „Nightclubbing“ (Grace Jones) entschieden und Anfang der 80er-Jahre begonnen hatte, Platten aufzulegen. Kurz darauf zog ich zum Studieren nach Hamburg, arbeitete bald als Redakteur für ein Stadmagazin und fand die Disco-Szene der Stadt eigentlich eher fad. Dance Music hatte sich, nach den interessanten frühen 80er-Jahren und ihrer Fusion aus New Wave, frühem Rap und Electro Disco auf einen recht starren Kanon festgelegt. Oder wie es Daft Punk mir in einem Interview Jahre später erklärten: „Clubben gehen hieß Mitte der 80er, zu den bekannten Hits von Prince und Michael Jackson zu tanzen. Man wusste immer schon das nächste Stück.“ Eine bleierne Zeit, in der zumindest in Deutschland mit ganz wenigen Ausnahmen vor allem in der schwulen Welt kein Club Underground existierte, sondern nur doofe, normale Discos.

In den USA dagegen hatte die aggressive „Disco Sucks“-Kampagne die Entstehung von genau so einem Club Underground beflügelt und die neuen elektronischen Möglichkeiten eine neue Generation von DJs inspiriert, ihre eigenen Tracks zu produzieren, zunächst mit der bescheidenen Ambition, in ihrer eigenen Nachbarschaft damit zu glänzen und ihren eigenen Dancefloor zu beglücken. Aber 1986 ging es Schlag auf Schlag. Über die Drehscheiben Ibiza und London verbreitete sich der neue House Sound aus Chicago rasant und fand sich schon bald als Novelty Gag in den Charts wieder. „Love Can’t Turn Around“ des erst kürzlich verstorbenen Darryl Pandy oder „Music Is The Key“ von Steve Silk Hurley waren, genau wie es der DJ Frankie Knuckles im Warehouse zelebrierte, nichts anderes als Weiterführungen von Disco mit simpleren Mitteln: Drum-Machines anstelle von Percussionisten und Trommlern, Synthies anstelle von Streichern und Hörnern, Samples anstatt Sängern, jedenfalls optional – alles im Dienste von Ekstase, von Sünde und Erlösung

Und 1987, 1988 begann man dann tatsächlich, „in die Zukunft hineinzutanzen“, um noch mal Daft Punk zu zitieren. Die Lieder waren plötzlich nicht nur unbekannt, es waren auch überhaupt keine Lieder mehr, sondern nur noch Rhythmen, Texturen, Basslines … Acid House war explodiert, in Hamburg ganz besonders vehement. Das Prinzip war so neu, simpel und radikal offen, dass es nur wenige Monate dauerte, bis aus einem verschworenen Londoner Underground-Kultus eine regelrechte Massenhysterie entstanden war, inklusive der Smileys, der Baggy Pants, der lustigen Hütchen und der rosa Sonnenbrillen. Ab 1989 konnte man auch in Deutschland vom Raven auf Raves zu Rave-Musik sprechen, was manchmal zu einiger Begriffsverwirrung führte, der allgemeinen Begeisterung aber keinen Abbruch tat. Bis heute existierende Megaveranstaltungen wie Mayday oder Pop-Phänomene wie Scooter haben in dieser Zeit ihre Wurzeln.

Während Acid House und Rave sich dem hierzulande herrschenden Geschmack entsprechend mehr und mehr in Richtung Techno aushärteten, hatte ich, inzwischen Autor und Redakteur des Kölner Musikmagazins „Spex“, reichlich Gelegenheit, nach London und New York zu reisen und dort in andere Spielarten dieser sogenannten universal language tiefer einzutauchen. Besonders der abstrakte New Yorker Deep House Sound, wie ihn Labels wie Nu Groove, Nervous oder Strictly Rhythm pushten, zeigte das musikalische Potenzial, das in House steckte. Überall auf der Welt bemerkten Musiker und DJs, dass House ja im Grunde nichts anderes war als eine Art Leinwand, auf der man die unterschiedlichsten und privatesten Entwürfe hinstellen konnte. Die teuren und gleichzeitig sehr begrenzten Sampler der mittleren 80er-Jahre waren inzwischen von so erschwinglichen wie leistungsstarken Modellen ersetzt worden, und analog zum HipHop jener Zeit sampelte man sich nun auch in der Welt der Houseproducer kreuz und quer durch das unerschöpfliche Musikarchiv, mit mehr oder weniger hohem Ethos und Willen zum Kommerz. So wurden die Jahre 1990 bis 1993 nicht nur zu den Ballerjahren des Bunkertechno, sondern auch zu den klassischen Jahren des freien House-Entwurfs, auf die sich bis heute, ja auch gerade heute, viele Produzenten beziehen, die sich diesem besonderen Geist verpflichtet fühlen.

Besonders Disco wurde zum gnadenlos geplünderten Steinbruch der Sampling-Schatzsucher. Aus Disco konnte man problemlos die perfektesten Loops destillieren. Je bekannter das Ausgangsmaterial, desto größer natürlich der Wiedererkennungseffekt, woraus sich Mitte der 90er-Jahre ein lukratives Geschäftsmodell entwickelte. In diesem Kontext verhielt sich das Musikprojekt Whirlpool Productions, das ich mit Eric D. Clark und Justus Köhncke 1992 gegründet hatte, im Grunde wie eine Punkband, die zwar durchaus rockte, aber eben nicht mit Rockmusik. Und die zwar Disco und House Music machte, aber eben nicht in einem engen Stilverständnis, sondern als frei interpretiertes Prinzip. Trotz stromlinienunförmigen Zuschnitts konnte unser Trio etwa eineinhalb Hits generieren, in den letzten Tagen der goldenen Ära der Musikindustrie, die Hand in Hand mit der Genussmittelindustrie House immer mehr zum Soundtrack globaler Konsumfreuden zurichtete.

In England nannte man es Handbag-House, ich nannte es meistens Boutiquen-House, denn bald bumste House aus jeder Boutique. House (und auch Techno) widerfuhr, was noch jedem neuen Stil, zumindest in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit, passiert war: die Kuh, bzw. der Kult, wurde gnadenlos gemolken. Besonders englische Vermarktungsmodelle, bei denen in Superclubs Super-DJs Supertunes zu Superpreisen auflegten, vergällten das Konzept House, nahmen ihm die idealistische Aura. Ende der 90er-Jahre wirkte House ausgelutscht und fad. Minimal Techno und Electro Clash setzten auf abstraktere bzw. rockigere Reize und verschafften der House Music so eine mehrjährige, verdiente Ruhepause, in der sie sich, wie ehedem die Mutter Disco, im Underground sammeln, regenerieren und auf sich selbst besinnen konnte. So auch ich: Als 2004 mein Album The True Sound Center erschien, waren die Kritiken höflich, aber bestimmt: „Nieswandt kann nix anderes als House.“

Das stimmte im Grunde sogar und so ist es in gewisser Weise bis heute geblieben. Außer dass mir Disco, House, Techno und meinetwegen auch was immer die Jugend von heute unter Electro versteht inzwischen mehr oder weniger wie eine einzige Musikrichtung erscheint. Endlos kompatibel miteinander, über Dekaden hinweg. Gerade in der aktuellen Edit-Ära klingen die erfreulicherweise meist unter Denkmalschutz-Kriterien renovierten und frisierten frühen House-Tracks und Disco-Jams oft ununterscheidbar frisch, wie topaktuelle Produktionen, die sich ja auch zu gerne an den Originalen abarbeiten.

Auch das vielleicht ein Grund, warum das Disco-Durchschnittsalter eindeutig gestiegen ist. Das Eintrittsalter ist unverändert jung, aber die Menschen haben ihre Ausgeh-Lebensphase verlängert. Mittdreißiger müssen keine Minderheit mehr sein. Viele führende DJs sind inzwischen über vierzig, wenn nicht über fünfzig. An ein Anhalten ist nicht zu denken, so ist das eben mit House, es geht immer weiter und hört nie auf. Club-Generationen kommen und gehen, die so überaus einleuchtende House-Idee von Sünde und Erlösung bleibt bestehen. Es ist letztlich eben der berühmte Rhythmus, bei dem jeder mit muss, the groove that won’t stop, der uns noch mindestens weitere 300 000 Jahre begleiten wird, oder so lange es halt Menschen gibt.

Hans is Playing House heißt die im August auf dem Hamburger Label Bureau B erscheinende Compilation mit Remixen, die Hans Nieswandt in den vergangenen Jahren für andere, vorwiegend deutschsprachige Künstler angefertigt hat. Mit u.a. Barbara Morgenstern, JaKönigJa, Werle & Stankowski, Eric D. Clark und Knarf Rellöm. Das Leben als DJ ist auch Thema seiner Bücher. Nach dem Debut „Plus Minus Acht“ erschien 2010 „DJ Dionysos“ bei KiWi.