PJ Harvey über den Blick nach innen


Noch nie hat Polly Jean Harvey so radikal ihr Seelenleben als Rohstoff für ihre Kunst ausgebeutet wie bei der Arbeit an ihrem neuen Album White Chalk. Ein Gespräch über Wege der Imagination und die Macht der Erinnerung.

Der Küstenstreifen der südenglischen Grafschaft Dorset ist in gleißendes Sonnenlicht getaucht, das Pub im malerischen Dörfchen Abbotsbury liegt hingegen in schläfrigem Dunkel. Ein Kontrast, der sich auch auf PJ Harveys Gesicht widerspiegelt. Für Interviews steht sie nur höchst ungern zur Verfügung, und die Dramaturgie eines Gesprächs bestimmt sie allein. Sie auf ein Thema festzulegen, ist so gut wie unmöglich. So dauert es eine kleine, beklemmende Ewigkeit, bis sie ihren Blick vom Fenster abwendet und sich der Situation öffnet. Doch plötzlich blickt sie tief in sich hinein und lüftet den Schleier ihrer Erinnerung, Sehnsüchte und Selbstzweifel.

Die karge Küste uon Dorset ist berauschend schon. Inspiriert diese Landschaft deine Musik?

Hier wurde ich geboren, hier wuchs ich auf. Insofern müsste die Landschaft auf jeder Platte sein. Aber ich stimme zu, dass die Aufnahmen zu White Chalk viel melodischer, pastoraler und schöner sind als meine früheren Alben. Ich durchlebe verschiedene musikalische Phasen. Wie viel das mit der Landschaft zu tun hat, kann ich selbst schwer sagen.

Kunst kann ja ein guter Fluchtweg sein, bietet aber auch die Möglichkeit zur Rückkehr.

Ich habe oft das Gefühl, wenn ich weit genug von Dorset entfernt bin, spielt die Erinnerung an diese Umgebung eine wesentlich größere Rolle in meiner Musik. Bin ich hingegen zu Hause, projiziere ich völlig andere Räume in meine Songs. Sich in einer bestimmten Umgebung aufzuhalten, bedeutet ja nicht, dass man diese Landschaft unmittelbar reflektiert. Manchmal ist es genau umgekehrt.

Aber wie sehen deine inneren Landschaften aus? Du hast zwar oft betont, deine Musik habe nichts mit dir selbst zu tun, aber auf White Chalk scheint das nicht zuzutreffen.

Meine Kunst ist stets eine Mixtur aller Dinge, die mich beschäftigen. Das können Nachrichten aus Zeitungen oder dem Fernsehen sein, Erlebnisse von Freunden, Fotos, zufällig abgelauschte Gespräche und vieles mehr. Dinge, die mich zufällig erreichen. Diese Informationen sind nicht exklusiv mit meiner eigenen Erlebniswelt verbunden. Aber sie gehen durch den sensiblen Filter meiner Fantasie und Erinnerung. Ich verwandle diese zufälligen Begebenheiten in interessante Geschichten, die andere Menschen genauso bewegen wie mich selbst. Allerdings gebe ich zu, dass manche Platten die emotionalen Landschaften in mir stärker reflektieren als andere. Die neue Platte steht sicher für eine sehr intime und persönliche_Atmosphäre. Allein das Piano spricht andere Gefühle an als frühere CDs. Ich hätte exakt dieselben Songs mit elektrischer Gitarre und Schlagzeug einspielen können, und es wäre ein völlig anderes Statement geworden.

Warum hast du eine Piano-Platte gemacht?

Mein größter Wunsch ist, mich nicht künstlerisch zu wiederholen. Manchmal gelingt mir das sehr gut, aber oft gelange ich an Punkte, an denen ich schon einmal war. Für das neue Album hatte ich vierzig oder fünfzig Songs geschrieben. Ich wählte die elf stärksten Songs aus, und es war eher Zufall, dass sie alle auf dem Piano entstanden waren.

Das Klavier führt deine Stimme an einen völlig anderen Platz.

Das ist lustig, denn der erste Song, in dem ich mit dieser neuen Stimmlage sang, war ein Gitarren-Song. Er ist nur deshalb nicht auf der CD, weil ich ihn nicht stark genug fand. Ich blieb in dieser Stimmlage, und irgendwann kam das Klavier hinzu. Das öffnete mir eine völlig neue Welt. Anfangs fühlte ich mich, als würde ich in der Dunkelheit nach Licht suchen. Monatelang suchte ich nach dem Schlüssel, der mir die Tür öffnen würde, aber ich gelangte nicht an den entscheidenden Punkt. Das passiert nicht vielen Schreibern, ohne dass sie die Geduld verlieren. Aber ich hatte genug Vertrauen zu mir selbst, um nicht aufzugeben. Jeder Schritt schien in die richtige Richtung zu führen, aber die Tür kam trotzdem nicht näher. Als ich endlich den Schlüssel hatte, schrieb ich die Platte in wenigen Monaten, aber die Suche nach dem richtigen Einstieg hatte zweieinhalb Jahre gedauert.

Das Ergebnis klingt beinahe wie ein elisabethanischer Song-Zyklus.

Während der Entstehung dieser Platte habe ich fast ausschließlich klassische Musik gehört. Ich habe sie regelrecht absorbiert. Diese Erfahrung befreite mich von der Überzeugung, dass alles eine bestimmte Struktur oder einen Regelkanon haben müsse. Es gibt so viel mehr Melodien und Perspektiven auf der Platte, die ich nur entdecken konnte, weil ich die alten Regeln über Bord warf.

Das klingt für mich nach einem im Grunde recht kindlichen Zugang.

Es passiert mir zum ersten Mal, dass kleine Kinder, vor allem Mädchen, eine neue CD von mir mögen. Vielleicht ist es ein Kinderalbum. Das hängt sicher damit zusammen, dass ich mein Erwachsensein während des Songwritings aus meinem Hirn verbannte. Ich erinnerte mich an die enormen Kapazitäten an Fantasie und Imagination, die man in der Kindheit aufbringt, und versuchte aus der Perspektive einer Fünfjährigen zu schreiben. Je älter man wird, desto seriöser und korrekter versucht man sich zu geben. Als Kind nimmt man überall seine unsichtbaren Freunde mit, lebt in einem Schloss und kämpft gegen Geister. Ich träume jede Nacht sehr intensiv. Manchmal wache ich auf und weiß nicht, ob ich etwas geträumt oder wirklich erlebt habe. Aber macht das einen Unterschied? Unsere Träume sind schließlich Teil unserer Realität.

Kinder haben ja die Fähigkeit zur imaginären Erinnerung. Es spielt für sie keine Rolle, ob sie etwas erlebt oder nur ausgedacht haben. Geschichte, Gegenwart und Zukunft sind für sie absolut gleichwertig.

Ich wollte mich vom Zwang der Zeit befreien. Sie könnte in hundert Jahren spielen, vor zweihundert Jahren oder genau in diesem Augenblick. In der Vorstellung eines Kindes macht all das keinen Unterschied. Normalerweise ist eine Platte für mich nur ein Stück Arbeit. Wenn es erledigt ist, kommt es zu den Akten, und ich widme mich der nächsten Arbeit. Diese neue CD bleibt hingegen in meinem Player, denn ich entdecke so viele Sachen über mich selbst darauf. Das bringt mich manchmal mehr durcheinander, als mir lieb ist.

Haben deine Songs nicht auch eine starke visuelle Komponente?

Oft beginnt ein Song mit einem Bild von einem bestimmten Ort oder einer Filmszene. Ich kann die Darsteller regelrecht sehen.

Aber du bist ja stets der Hauptdarsteller in deinen Songs. Wie gestaltest du diese Rollen?

Sie kommen einfach zu mir. Es kann mit einem Gefühl anfangen. Dann spüre ich den Wunsch, dieses Gefühl zu artikulieren. Ich finde es so wichtig, dass wir über die Dinge kommunizieren, die uns beunruhigen. Unsere Standpunkte sind oftmals gar nicht so unterschiedlich voneinander, und doch wissen wir nicht, dass unsere Gefühle irgendwo geteilt werden. Andere Künstler werden diesen Druck in der direkten Rede los. Mein Medium sind die Songs. Ich kann nur hoffen,dass andere Menschen damit dann auch etwas anfangen können.

www.pjharvey.net