ME Liste

Das sind die 100 besten Live-Alben aller Zeiten


Die 100 besten Live-Alben in der ultimativen ME-Liste – diese Platten sind für die Ewigkeit.

1. Nirvana – MTV UNPLUGGED IN NEW YORK

Was sind die entscheidenden Kniffe, eine gute Live-Platte aufzustellen? Erst mal legt man die Aufnahme-Termine ans Ende einer größeren Tour, wenn die Band richtig eingespielt und jeder mit dem Setting vertraut ist. Show, Musik, Geplänkel – alles muss verinnerlicht und abrufbar sein, damit auch bei Rotlicht die beste Version der Band rüberkommen kann. Da Live-Platten im eigenen Portfolio oft eher besseren Merch darstellen, empfiehlt es sich außerdem, sie mit einem Parforce-Ritt durch die eigene Hit-Historie aufzuwerten.

Das alles sind nicht nur probate Stellschrauben für eine Live-Veröffentlichung, es ist vor allem etwas, das bei Nirvanas Ausnahmeplatte MTV UNPLUGGED IN NEW YORK überhaupt keine Rolle spielte. Nirvana begegneten dem akustischen Format seinerzeit herzlich unbedarft und hatten nach Angaben von Dave Grohl nicht mal extra geprobt.

Die Setlist des Auftritts von 1993 ließ darüber hinaus quasi alle Singles vermissen. Lediglich „Come As You Are“ hatte die Band mitgebracht. Ansonsten finden sich unter den 14 Titeln gleich sechs eher unbekannte Coverversionen und nur drei Stücke des damals gerade veröffentlichten dritten Studioalbums IN UTERO. Wobei der größte Affront der Tracklist sicher das Fehlen der Grunge-Supernova „Smells Like Teen Spirit“ darstellt.

Im Nachhinein ist es dann aber gerade diese Ansammlung unverbrauchter Songs, die nicht nur die Platte, sondern auch MTVs Unplugged-Reihe in ein prächtiges Licht stellen wird. Vorab jedoch zeigte sich der Sender nicht gerade erfreut über die Aussicht, dass seinem 1991 gestarteten Premium-Format die Premium-Stücke vorenthalten werden sollten. Es kriselte ohnehin zwischen dem Sender und der erschöpften Mega-Band. Ein Jahr zuvor hatte MTV es Nirvana untersagt, bei der Show zu den Video Music Awards den Song „Rape Me“ zu spielen. Zähneknirschend – und nicht ohne live noch kurz „Rape Me“ anzusingen – einigte sich die Band damals mit MTV auf eine Performance zu „Lithium“.

Diesmal aber konnte niemand Nirvana überstimmen. Der Sender, der auch für den globalen Erfolg, Hype und Stress stand, der Nirvana in dieser Zeit vor sich her trieb, musste sich an jenem Abend zufriedengeben mit der (vermeintlichen) B-Liste an Songs. Dann war es so weit.

Auch wenn man die Albumversion hört, sobald der Applaus vor dem ersten Stück aufbrandet, sieht man doch sofort die Bühnenkulisse vor sich. Man sieht Cobain auf einem schmucklosen Bürostuhl sitzen und man sieht diese Bühne, eine Bühne mit dem Charme eines verlassenen Unfallortes: Also geschmückt mit Blumen und Kerzen und belegt mit einer gewissen Schwere, einer Unheilsahnung. Nach 15 Sekunden ist der Applaus verebbt und es bleibt bloß noch diese sakrale Stimmung stehen, die diese Aufnahme so einzigartig machen wird.

Sein Tod lässt die Emotionen, die Cobain den Songs mitgibt, schmerzhaft wahrhaftig erscheinen.

Die Begrüßung an diesem verwunschenen Ort fällt spröde aus, ist bemüht, eher Distanz zu schaffen denn als Zeremonienmeister das Publikum in Live-Show-Stimmung zu versetzen. Cobain kündigt „About A Girl“ mit den Worten an: „This is off our first record, most people don’t own it.“ Es dauert ein wenig, bis die unbestreitbare Magie dieses Happenings den Raum fluten wird. In „About A Girl“ quält sich Cobain noch mit der Kopfstimme, danach kommt der größte Hit im Set, „Come As You Are“, doch es ist bezeichnenderweise erst eine der Coverversionen, mit der die Performance ihre volle Faszination entfaltet. „Jesus Doesn’t Want Me For A Sunbeam“ von The Vaselines – auf dem Papier nicht gerade ein Crowdpleaser, seine Wirkung in

diesem Moment des Konzerts allerdings atemraubend. Ab dem dritten Stück ist klar, in diesem Meer aus weißen Lilien hier wird Musikgeschichte geschrieben – und es ist für den Zuhörer Zeit, sich überwältigen zu lassen. Egal, welche Songs die Band dazu aus der Strickjacke ziehen wird. So kommen im Set immerhin drei Stücke der Meat Puppets zu Ehren: „Plateau“, „Oh, Me“ und

„Lake Of Fire“, die Meat Puppets singen dabei selbst Backing Vocals. Wer nur die MTV-Show kennt, dem fehlt dabei übrigens „Oh, Me“, jenes wurde nicht in die TV-Ausstrahlung genommen, genauso wenig wie „Dumb“ von IN UTERO. Beides findet sich auf der Plattenversion.

Und apropos Strickjacke. Ein Kleidungsstück, das auch für überzeugte Antihelden sicher nicht die erste Wahl bei so einem gefilmten Großevent gewesen wäre. Doch genau darin findet das ganze sexy Understatement Cobains einen kratzigen Ausdruck. Auf einmal scheint nichts je cooler gewesen zu sein als dieser Opa-Look. In jenem Augenblick ist der zerrissene Musiker das ultimative Alternative-Rock-Pin-up. Sein zu hinreißender Musik geronnener Schmerz der neue Gipfel für die Marke Nirvana, für MTV, für das noch junge Unplugged-Format. Puh.

Dieses Live-Album fühlt sich heute an wie die vierte Nirvana-Platte, zu der es nicht mehr gekommen ist. Der große Erfolg beim Publikum bestätigt das. Weltweit wird MTV UNPLUGGED IN NEW YORK geliebt. In den USA erreicht es mit über acht Millionen verkaufter Tonträger achtfach Platin, in Deutschland bleibt die Platte fast ein Jahr in den Charts. Cobain selbst hat das alles nicht mehr erlebt. Als sie im Oktober 1994 erscheint, ist er bereits seit sieben Monaten tot. Das lässt die Emotionen, die er den Songs mitgibt, so schmerzhaft wahrhaftig erscheinen, dass man dieses Album wohl nie einfach so nebenbei wird hören können. – Linus Volkmann

Best moment: Der Beginn von dem Bowie-Cover „The Man Who Sold The World“… die verzerrte Tonfolge der Gitarre, der Bass von Krist Novoselic, die ersten Zeilen. Rockmusik war selten konzentrierter, dramatischer, trauriger, selten so makellos wunderschön.