Ein Himmel voller Geigen


Diverse

Philadelphia International Records: The 40th Anniversary Box Set

****1/2*

Philadelphia International Classics: The Tom Moulton Remixes

*****

Harmless/Soulfood

Jubiläum mit gleich zwei Boxen. Eine liefert den bislang umfangreichsten Gesamtüberblick über das große Philly-Soul-Label, auf der zweiten wirkt der Vater aller Mix-Meister.

So richtig traute man seinen Ohren nicht, als Kenny Gamble und Leon Huff im Jahr 1971 mit einer Single an den Start gingen, die sich am Südstaaten-Rock orientierte. Ausgerechnet diese beiden Songschreiber, die zuvor schon länger als Soul-Adepten gehandelt wurden, probierten es zuerst mit einem Sänger namens Gideon Smith und „Arkansaw Wife / When Two Worlds Can Successfully Collide“. Diese 7-Inch kann man leicht vergessen, wenn man die Veröffentlichung von Philadelphia International Records dokumentiert. Ein Ralph Tee aber vergisst nicht. Der Engländer, Mitbetreiber des UK-Labels Expansion Records, ist ein absoluter Soul-Narr und ausgewiesener Philly-Kenner. Er war schon für die Zusammenstellung der 1986 veröffentlichten Box The Philadelphia Story auf Street Sounds zuständig (die der Autor dieser Zeilen im Übrigen als letztes Stück seiner Plattensammlung aus der Hand geben würde, wenn es hart auf hart käme).

Jetzt durfte Tee die Oberaufsicht über eine noch umfassendere Werkschau seiner Lieblingsplattenfirma übernehmen. Aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums hat er die wichtigsten Songs von PIR auf zehn CDs zusammengefasst. Alle Aufnahmen erhielten zu diesem Zweck ein ordentliches Remastering. Im 60-seitigen Booklet der Box liefert Tee Detailinformationen zu jedem Titel, egal ob es um einen Hit oder ein weniger bekanntes Stück geht. Der Mann kennt sich aus.

Kompetenter kann man nicht durch das Gesamtwerk eines Labels begleitet werden, das Motown in den 70er-Jahren als prägendes Haus abgelöst hatte. Natürlich gibt es auch aus dieser Zeit unvergängliche Arbeiten bei Motown: zum Beispiel von Marvin Gaye, Stevie Wonder und Diana Ross. Für den neuen Stil stand jedoch eindeutig PIR. Vorher orientierte man sich im Soul ja an den simplen Strukturen des Pop und schnellen tanzbaren Rhythmen. Doch nun wurde plötzlich alles opulenter aufgezogen. Verantwortlich dafür war die von Gamble & Huff installierte Hausband Mother Father Sister Brother, kurz M.F.S.B., zu der um die 30 Musiker gehörten. Mit ihren Instrumentals „K-Jee“ und „T.S.O.P. (The Sound Of Philadelphia)“ beginnt auch die erste CD dieser Box. In ihnen vereinen sich die beiden wichtigsten Elemente des Philly-Sounds: Treibende Rhythmen mit ständig zischender Hi-Hat und üppig arrangierte Orchestermusik. Sie tauchten unterschiedlich betont in allen Aufnahmen der frühen Philly-Ära auf und waren Vorboten des Disco-Sounds. Diese Vorliebe hat Gamble & Huff nicht nur Freunde eingebracht. Gegner halten ihre Produktionen bis heute für zu seicht, was allerdings eine grobe Pauschalisierung darstellt. Auf „When Will I See You Again“ von The Three Degrees oder auf die die Elternliebe zu sehr betonende Eloge „I’ll Always Love My Mama“ von The Intruders mag das zutreffen, aber es gab ja auch The O’Jays, die mit „Back Stabbers“ und „For The Love Of Money“ kritischen Geist ins Spiel brachten. Es gab auch „Let’s Clean Up The Ghetto“ von den Philadelphia International All Stars. Gamble hatte diese Supergruppe zusammengestellt, um Geld für die Benachteiligten in den Problemvierteln der Stadt zu sammeln. Für die Jury der Rock’n’Roll Hall Of Fame gibt es allerdings keinen Zweifel an den Verdiensten der Songschreiber und Produzenten. Dort sind Gamble & Huff seit 2008 aufgenommen.

Es gibt weitere Hits, die untrennbar mit dem Label verbunden sind. Gleich drei davon stammen von Harold Melvin & The Blue Notes. Alle drei handeln von den Schattenseiten des Liebeslebens. Das gilt für „The Love I Lost“ genauso wie für „Don’t Leave Me This Way“, später ein großer Erfolg für Thelma Houston, und „If You Don’t Know Me By Now“, das von Rotlocke Mick Hucknall zur harmlosen Schnulze degradierte Klagelied. Billy Pauls „Me & Mrs Jones“ gehört zu den unverwechselbarsten Balladen des Soul überhaupt. Lou Rawls war für PIR ein atypischer Künstler, weil er vor seinem ersten Album für das Label auf eine erfolgreiche Zeit als Jazz- und Blues-Sänger verweisen konnte. Doch wie viele seiner Kollegen konnte sich auch Rawls nicht dem Reiz des Zeitgeistes entziehen. Das Orchester-Arrangement in „You’ll Never Find Another Love Like Mine“ war ein perfektes Vehikel für die tiefe rauchige Stimme dieses Frauenverführers. Der Song war sein größter Hit überhaupt. Auch The Jacksons waren Quereinsteiger. Sie liefen 1976 von Motown zu Epic Records über und ließen sich von Gamble & Huff in den Sigma Sound Studios, der Brutstätte des Philly-Souls, produzieren. „Show You The Way To Go“ ist eines der bekanntesten Stücke aus dem kurzlebigen Joint-Venture von Epic und PIR. Auch jenseits von Soul und Pop hatten Gamble & Huff ein gutes Händchen. „Do It Any Way You Wanna“ von People’s Choice tönt heute noch durch jeden Partykeller, „Life On Mars“ von Dexter Wansel ist ein Jazz-Funk-Juwel und „Ain’t No Stoppin‘ Us Now“ von McFadden & Whitehead ist ein Souvenir aus einer Zeit, als sich der Trend wieder drehte, elektronische Instrumente wichtiger wurden und der Big-Band-Sound aus Philly an Bedeutung einbüßte.

Was diese Box von der aus dem Jahr 1986 unterscheidet, ist die größere Anzahl von Optionen für den Liebhaber. Gerade die dritte CD macht in diesem Punkt mit Aufnahmen von Dick Jensen, Kaleidoscope, Derek & Cyndi und Yellow Sunshine glücklich. Der einzige unveröffentlichte Track kommt zum Schluss. Es ist eine Version von „Baby Don’t Go Yet“ von The Jones Girls. Das ist etwas wenig, wenn man bedenkt, dass in den Archiven von PIR noch viel unveröffentlichtes Material schlummert. Aber vielleicht will man sich diese Schätze für das 50-jährige Jubiläum aufheben.

Neu sind dafür die Abmischungen von Philly-Klassikern auf einer Extra-Veröffentlichung. Soll heißen: Vier CDs mit Versionen von Tom Moulton, dem Vater aller Remixes. Könnte es ein schöneres Geschenk geben? Der Meister arbeitet ausschließlich mit Originalsounds, nicht mit Effekten oder Versatzstücken, die dem Geschmack einer jüngeren Generation entsprechen. Moulton hat die instrumentalen Passagen gedehnt und den Tracks eine Länge verliehen, die sie verdienen. So kann man sich noch ausgiebiger einem Sound hingeben, in dem der Himmel voller Geigen hängt.

Name Philadelphia International Records

Aktiv von 1971 bis heute

Gründer Kenneth Gamble, Leon Huff

Genre Soul, Funk, Pop, Disco

Beeinflusst von

Isaac Hayes, Ashford & Simpson, The 5th Dimension, Motown

Beinflussten Aloe Blacc, Jill Scott,

John Legend, Jamiroquai

Weiterhören Dionne Warwick, The Delfonics, Bobby Womack, Tavares