Interview

IDLES‘ Joe Talbot: „Ich will einfach kein Arschloch sein“


Am 11. November spielten IDLES ein ausverkauftes Konzert im Berliner SO36. Zuvor trafen wir Sänger und Texter Joe Talbot zum Gespräch über Maskulinität, Verletzlichkeit und den Brexit.

„Mhm, ja, mhm. Ich glaub‘, mein erster Interviewpartner ist hier. Ich liebe dich, ruf‘ dich später wieder an.“ Joe Talbot sieht müde aus, als er sich von seiner Verlobten am Handy verabschiedet. „Die Tour ist einfach zu lang“, sagt er zur Begrüßung, „Wir haben jetzt noch 20 Shows in 23 Tagen bis zur nächsten Pause.“

Der Sänger und Texter der britischen Post-Hardcore-Punk-Sensation IDLES scheint sich nicht recht daran gewöhnen zu können, eine gefragte Person zu sein. Mit ihrem Debüt BRUTALISM brachen IDLES 2017 über die Musikwelt wie ein Tornado. Bassläufe wie Walzen, schneidende Gitarren, unnachgiebiges Drumming – und über alledem Talbots herrliche Allerweltsstimme, die über den Tod seiner Mutter und all die Fragen, die dieser Schicksalsschlag in ihm aufgeworfen hat, singspricht.

Punksänger presst Asche seiner toten Mutter auf Vinyl-Platte

Joe Talbot ist ein Geschenk für die zeitgenössische Musiklandschaft, ach was, für alle Zeitgenossen. Die Offenheit, mit der er den Hörer mit seinen psychischen Abgründen konfrontiert, grenzt an Exhibitionismus. Talbot selbst spricht von einer Karthasis, die er mit dem Tod seiner Mutter und der Entstehung von BRUTALISM durchlebt hat, an dessen Ende er sich als einen besseren Menschen im Spiegel sah. Er ging zur Therapie, schwor Drogen und Alkohol ab, rettete die Beziehung zu seiner Partnerin, verlobte sich – und erlitt den nächsten Schicksalsschlag: Seine Lebensgefährtin und er mussten die Totgeburt ihrer Tochter Agatha erleben.

Talbot trauerte, stand seiner Verlobten bei und begann ein neues Album zu schreiben: JOY AS AN ACT OF RESISTANCE sei das Ergebnis seines Erneuerungsprozesses durch die Therapie und des Umgangs mit dem Tiefschlag, der ihn durch den Tod seiner Tochter ereilt hat. Auf „June“, dem persönlichsten und ruhigsten Songs auf JOY…, singt Talbot von Babyschuhen, „for sale, never worn“, und das er sich trotz allem als Vater fühlt.

Inwiefern wurden Songs wie „Mother“ und „June“ auch zum Selbstzweck geschrieben?

Joe Talbot: Ich schreibe unterschiedliche Songs aus unterschiedlichen Gründen. „Mother“ ist nicht vergleichbar mit „June“. „Mother“ schrieb ich, nachdem meine Mutter gestorben war. Er sollte eine Reflektion darauf sein, wie ihre Rolle als Frau mich und wie mein Aufwachsen als Mann sie beeinflusste. Wie ihr Leben mich als Feministen und trauernden Sohn beeinflusste. Der Song war mehr eine Erklärung. Alles an BRUTALISM war eine Karthasis, ich fühlte mich zu dieser Zeit sehr verloren. Indem ich Songs schrieb, ohne tiefer darüber nachzudenken, fand ich mich wieder. Ich fühlte mich befreit und gut dadurch. Es fühlte sich wie ein riesiger Schritt nach vorne an, weil ich etwas hinter mir lassen konnte. „June“ wiederum war ein Ruf an andere Eltern, die um ihr Kind trauern. Sie sollen wissen, dass sie nicht alleine sind. Sie sollen wissen, dass du dich Vater oder Mutter nennen darfst, auch wenn du dein Kind nicht in deinen Armen halten kannst.

Du thematisierst die Rolle Deiner Mutter, in anderen Songs auch die von Vätern, wenn Du etwa in „Samaritans“ davon singst, dass man seinen Vater niemals weinen sieht. Inwieweit hat die Trennung Deiner Eltern und der spätere Verlust Deiner Mutter Dein Verständnis von Maskulinität geformt und verändert?

(überlegt) Hat es nicht. Glaube ich. Ich versuche noch immer das Prinzip von Maskulinität nachzuvollziehen und zu verstehen. Maskulinität ist ein lähmendes Prinzip, wie ich durch meiner Therapie gelernt habe. Dass meine Eltern sich früh getrennt haben, hat nichts mit meinem Verhältnis zu Maskulinität zu tun. Dass ich Maskulinität in Frage stelle, hat mit der Therapie begonnen. Ich habe „The Descent Of Man“ von Grayson Perry gelesen. Das Buch hat mir sehr dabei geholfen zu verstehen, warum diese toxische Maskulinität ganz natürlich in mir und vielen überaus intelligenten Menschen sitzt.

„Das Leben ist einfach besser, wenn du verletzlich bist“

Du zeigst Dich auch heute sehr offen im Gespräch. Offenheit ist generell eine Sache, die Dir sehr wichtig zu sein scheint. Ist Emotionen zuzulassen Dein Weg diese „mask of masculinity“, von der Du auf „Samaritans“ singst, zu bekämpfen?

Ja, auch das habe ich in der Therapie gelernt. Die erste Sache, die ich dort realisiert habe, ist, dass ich mich den größten Teil meines Lebens einsam gefühlt habe. Diese Einsamkeit in mir ist seltsam, da ich aus einer sehr unterstützenden Familie komme und mir auch einen solchen Freundeskreis aufgebaut habe. Ich war nie von Menschen umgeben, die mir einredeten ein „echter Mann“ sein zu müssen. Mein Vater ist Künstler und sehr offen in seinen Ansichten, er hat mir also nie diese Bürde auferlegt. Und trotz dieses Umfeldes fühlte ich mich tief im Innersten einsam und war nicht in der Lage meine Gefühle offen zu zeigen. Ich habe es mir nie erlaubt mich gegenüber meiner Partnerin oder meinen Freunden verletzlich zu zeigen. Ich habe mich dadurch isoliert, dass ich Menschen nicht wirklich in mein Leben gelassen habe. Durch die Therapie habe ich gelernt, mich zu öffnen und verletzlich sein zu dürfen. Zu realisieren, dass selbst ich als jemand, der aus einem solch offenen Umfeld stammt, diese toxische Maskulinität in sich trägt, hat mir nur noch mehr geholfen dieses angebliche Ideal der Maskulinität zu hinterfragen.

6 Rockdebüts, die uns Hoffnung geben

Emotionen können auch schnell verletzlich machen und so Angriffsfläche erschaffen. Machst Du Dir niemals Sorgen, dass Deine Emotionalität gegen dich genutzt werden könnte?

Ja, schon. Aber: Fuck em. Erst wenn du dich traust, dich verletzlich zu zeigen, merkst du, wie sicher du dich in deinem Umfeld wirklich fühlst. Du realisierst, wer deine wahren Freunde sind, du realisierst, wen du wirklich in deinem Leben brauchst. Dieser Realisierungsprozess beginnt jedoch erst damit, dass du dich überhaupt verletzlich zeigst. Ja, manchmal ist das alles unheimlich. Aber auf lange Sicht betrachtet lohnt es sich ungemein. Das Leben ist einfach besser, wenn du verletzlich bist.

Es ist wirklich beeindruckend, wie reflektiert Du über die Brüche in Deinem Leben sprichst; dem Tod Deiner Mutter, dem Tod Deiner Tochter, Deine Suchtprobleme. Woher nimmst Du diese unglaubliche Kraft, über diese Dinge so offen zu sprechen und dadurch Menschen, die ähnliche Situationen durchleben oder durchlebt haben, ein Vorbild zu sein?

Ich weiß es wirklich nicht. Ich versuche es einfach. Meine Absicht ist es, Menschen wissen zu lassen, dass sie nicht alleine sind. Isolation und Einsamkeit sind nämlich aus meiner Sicht die gefährlichsten Emotionen, die ein Mensch nur fühlen kann. Ich will aber kein Vorbild sein.

weiter auf Seite 2

Erik Lorenz
Erik Lorenz