Jewel: blond und brillant


Die Frauen sind auf dem Vormarsch im internationalen Musikbusiness. Doch kaum eine Künstlerin besitzt so viel Klasse wie die 24jährige Jewel Kilcher.

DIE FAHRT FUHRT GEMACHLICH DIE HÜGEL OBERHALB VON I Santa Monica hinauf nach Brentwood, einem netten kleinen Viertel im Großraum Los Angeles, eingegrenzt durch die Stadtteile Westwood und Bei Air im Osten, Pacific Palisades im Westen und die Santa Monica Mountains im Norden. Auch wenn sich die Region seit r den Tagen von Philip Marlowe mächtig verändert haben dürfte, so bleiben die klangvollen Namen doch erhalten. Mit Sicherheit keine billige Wohngegend, aber auch keinesfalls so aufgeblasen und überdimensioniert wie die einschlägigen Bereiche von Beverly Hills, wo viele der palastartigen Villen erst gar nicht von der aus Straße zu sehen sind.

Das Fahrzeug hält vor einem der Häuser, das Jewel für den Zeitraum der Produktion ihres neuen Albums „Spirit“ gemietet hat. Die Zeiten, in denen sie in erster Linie aus finanziellen Gründen in ihrem VW-Bus übernachten mußte, sind jedenfalls in weite Ferne gerückt. Auch wenn sich der alte, leicht abgewrackte Volvo-Kombi, der, wie für diese Schlußfolgerung gemacht, in der Einfahrt steht, hervorragend für eine romantische Rückreise in diese Zeit eignen würde. Das Studio, in dem Jewel mit Hilfe von Patrick Leonard, der sich unter anderem mit seinen Produktionen für Madonna einen Namen gemacht hat, rund vier Jahre nach der Veröffentlichung ihres erfolgreichen Debüts „Pieces Of You“ an „Spirit“ gearbeitet hat, befindet sich ganz in der Nähe in Santa Monica. Das Album steht, die Presse kommt. Es folgt eine kurze Begrüßung mit dem etwas müden, aber ausgeglichen wirkendem Star. Jewel hat auch allen Grund, etwas müde zu sein. In den vergangenen Monaten hat die vielseitig begabte Künstlerin nicht nur ihr neues Album fertiggestellt, sondern auch als Hauptdarstellerin in Ang Lees Bürgerkriegsdrama „Ride With The Devil“ gespielt und im Sommer ein überaus erfolgreiches Buch („A Night Without Armor“) mit ihren Gedichten veröffentlicht. Nachdem sie jahrelang auf Tournee von einem Ort zum nächsten gezogen ist, versteht Jewel die letzte Zeit als Erholung, da sie sowohl durch die Dreharbeiten als auch durch die Produktion der neuen Songs für längere Zeit an einen Ort gebunden war. Auch das Innere des Hauses ist interessant gestaltet. Das Paterre ist keine Ebene, sondern besteht aus mehreren, in unterschiedlichen Stufen angelegten Räumen. Aus dem Eingangsbereich geht es ein paar Stufen rauf zu einer Küche oder ein paar Stufen runter in den Wohnbereich. Wie um die Vielseitigkeit von Jewels Aktivitäten zu unterstreichen, stehen in der Mitte des Wohnraums eine Staffelei und ein Spiegel. Auf dem Papier hat sich Jewel gekonnt an einem Selbstportrait versucht.

„KREATIVITÄT IST FÜR MICH WIE EIN KÖRPER MIT seinen verschiedenen Teilen. Das Singen ist ein Körperteil, das Schreiben ein anderer und ebenfalls das Schauspielen. Ich habe auch gezeichnet, bin aber besser beim Singen und Schreiben. Das habe ich wesentlich länger gemacht und das ist einfach mein stärkster Muskel. Aber wenn ich nicht den ganzen Körper einsetze, habe ich das Gefühl, Möglichkeiten zu verschenken und bin auch schnell gelangweilt. Nach der Veröffentlichung meines ersten Albums war ich fast fünf Jahre lang nur auf Tour. Am Ende war ich höllisch gelangweilt. Der Film war eine hervorragende Abwechslung und hat mich dazu gebracht, wieder neue Songs schreiben zu wollen. Die Schauspielerei ist großartig. Aber du drückst nicht deine eigenen Gedanken aus, sondern betreibst vielmehr Studien an einer anderen Person. Das ist interessant, aber du hast keinen direkten Kontakt zu deinem Publikum und kannst nicht deine eigenen Gedanken mitteilen. Damm fühle ich mich beim Schreiben so wohl.“ Auf der Suche nach einem geeigneten Film war Jewel bereits seit längerer Zeit. Allerdings hat ihr der straffe Tourplan der vergangenen Jahre keine Gelegenheit gegeben, einen Film zu machen und der Ang Lee-Film wurde ihr angeboten, als sie gerade eine Pause einlegen wollte. „Soweit ich weiß, hat der Casting Agent eins meiner Videos zufällig beim Training im Fitneßstudio gesehen und hielt mich für die Rolle geeignet. Ich spiele ein junges Mädchen, das während des amerikanischen Bürgerkrieges aufwächst und von zwei Jungs begehrt wird. Ihr fehlt die Ecke eines Zahns und sie hat eine Narbe im Gesicht. Vielleicht wollten sie mich wegen meinen schiefen Zähnen haben.“ Eine Vorstellung, bei der sie selber herzlich lachen muß. Ihr Zähne blitzen für einen Moment auf.

Bei früheren Gelegenheiten hat Jewel betont, daß ihre Texte auf Erfahrung und Beobachtung beruhen. Da fragt es sich, wie sie bei all ihren Aktivitäten die erforderliche Ruhe findet, um diese Beobachtungen machen zu können? „Es ergibt sich eine Menge Material allein schon deshalb, weil ich mit so vielen Menschen und Situationen in Kontakt komme. Ich bin sehr empfindungs- und aufnahmefähig. Probleme entstehen, weil teilweise zu viel auf mich einströmt und ich nicht genug Zeit finde, es zu verarbeiten. Deshalb versuche ich, mir regelmäßig zumindest eine Stunde am Tag freizuhalten, in der ich in Ruhe über die vergangenen Ereignisse nachdenken und schreiben kann.“ Jewel hat lange bevor sie Songs verfaßt hat, Gedichte und andere Texte geschrieben, wobei sie für ihre Songtexte nur selten auf ihre Poems zurückgreift. „Manchmal verwende ich eine Zeile oder ein Bild. Für „Foolish Games“ habe ich z.B. ein paar Zeilen aus einem Gedicht verwendet. Aber soweit ich weiß, habe ich nie ein komplettes Gedicht als Songtext eingesetzt. Das Schreiben eines Gedichtes oder eines Songtextes funktioniert bei mir ganz unterschiedlich. Bei Gedichten habe ich keine Melodie im Kopf, bei Songtexten dagegen fließt die Melodie automatisch mit. Die Songtexte folgen einem bestimmten Rhythmus, müssen mit den Takten übereinstimmen und der Struktur des Songs angepaßt sein. Bei Gedichten ist das alles etwas offener.“ In ihrem Buch „A Night Without Armor“, der sowohl ganz neue als auch bis zu 15 Jahre alte Gedichte enthält, gibt sie sich wesentlich autobiographischer, als in ihren Songtexten. Zum Teil lesen sich die Texte wie ein Tagebuch. Dabei scheut sie es nicht, die teilweise sehr privaten Gedanken mit den Lesern zu teilen. „Da ist nichts außergewöhnliches, nichts, was nicht schon gedacht oder empfunden worden ist. Jeder hat sich mal verloren, verlangend, hoffend, ängstlich, stark oder verletzlich gefühlt. Ich will einfach so ehrlich sein wie möglich. Als ich aufgewachsen bin, habe ich Sachen wie Charles Bukowski, Anais Nin oder Henrik Ibsen gelesen. Alles Autoren, die sehr ehrlich schreiben, und die mir das Gefühl gegeben haben, nicht allein, kein Freak zu sein. Und das ich für diese Gedanken nicht in die Hölle kommen werde“, lacht Jewel und räumt ein, „es gibt natürlich einige Gedichte die ich erst gar nicht in das Buch aufgenommen habe. Allerdings nicht viele. Ich finde, Ehrlichkeit macht dich sogar weniger verletzlich. Wenn du dich in einem Bereich besonders tough gibst, dann ist das normalerweise gerade der Punkt, an dem du besonders empfindlich bist. Also denke ich, daß du durch Ehrlichkeit eher Stärke beweist. Als ich das Buch geschrieben habe, war mir schon klar, daß ich mich einer Menge harter Kritik aussetzen würde, da ich nur ein Popstar bin. Also hatte ich darüber nachgedacht, ob ich besser ein kritiksicheres Buch veröffentliche, das nur die Gedichte enthält, die bei den Kritikern gut ankommen, also eher der intellektuelle Stoff. Das Buch wäre wesentlich kürzer geworden. Andererseits war es gerade immer das Ungekürzte, Unzensierte, was mir an anderen Autoren besonders gefallen hat. Es muß nicht technisch perfekt, sondern einfach nur ehrlich sein. Deshalb habe ich auf ein jüngeres Publikum abgestellt, ein Buch geschrieben, das meine Entwicklung zeigt, so daß auch junge Leser das Gefühl haben, selbst diesen Prozeß durchmachen zu können, zum Schreiben und zum Lesen anderer Autoren ermutigt werden.“ Dabei ist sie sich ihrer Vorbildfunktion bewußt und empfindet diese auch nicht als Last. Sie sieht sich gern als eine Quelle der Inspiration, warnt aber davor, sie als „strahlendes Juwel“ auf einen Podest zu heben. Ihr außergewöhnlicher Name hat ihr nicht immer gut gefallen. Jewel lacht: „Mein Bruder wurde nach meinem Vater Atz Kilcher genannt. Bei mir ist es der Name meines Großvaters Yule, den sie in Jewel verwandelt haben. Atz und ich haben eine Phase durchgemacht, in der er sich Nick und ich mich Sandy nannte. Wir hatten diese seltsamen Namen satt, oder Leute, die sagten „Oh, Jewel, welch ein Glanz…“ Auch heute schreibt die Presse noch gerne Dinge wie „Jewel strikes gold“ oder „Jewel shines“. Die Nickund Sandy-Phase hielt nicht lange an und irgendwann habe ich verstanden, daß es schön ist, einen außergewöhnlichen Namen zu haben.“

IHRE KINDHEIT IN ALASKA HAT SIE TROTZ DER SPARTANISCHEN Bedingungen auf einem abgelegenen Bauernhof ohne fließendes Wasser und Elektrizität in positiver Erinnerung: „Da gibt es wirklich Dinge, die es auch wert sind und waren, romantisiert zu werden. Es war ziemlich hart, und wir mußten auch bei vielen Gelegenheiten auf dem Hof helfen, um fünf Uhr morgens aufstehen, die Kuh melken… Aber dafür hatte ich immer die Möglichkeit, mich im Freien aufzuhalten, und dafür bin ich sehr dankbar. Dieses einfache Leben lehrt dir eine gewisse Disziplin, eine gewisse Demut und eine gewisse praktische Einstellung zum Leben, die du auf andere Weise einfach nicht kennenlernst. Ich denke, wenn ich diesen Hintergrund nicht hätte, würde ich mit vielen Dingen, mit denen ich jetzt konfrontiert werde, nicht fertig werden.“ Das klingt ja alles recht spannend und naturverbunden. Aber gab es da nicht trotzdem Dinge, die sie als Kind vermißt hat? „Da gab es schon ein paar Dinge, die wir als Kinder unbedingt machen wollten,“ räumt Jewel ein, „wir sind zu Freunden gegangen, um dort fernzusehen oder Süßigkeiten zu essen. Sachen, die es bei uns zu Hause nicht gab. Und in der Schulkantine haben wir öfter unser Essen mit den anderen Schülern getauscht.“ Das einfache Leben in Alaska hat sie zumindest gut auf die Zeit in San Diego in ihrem VW-Bus vorbereitet. Eine Zeit am Rande der Armutsgrenze, die nicht nur Surfen und Sonnenschein bedeutete. „Besonders erniedrigend für mich“, erinnert sich Jewel, „war die Zeit, in der ich noch eine Mietwohnung hatte.“ ¿

DAS WENIGE GELD, DAS ICH HATTE, GING FÜR DIE MIETE drauf. Das ging bis zu einem Punkt, an dem ich Klopapier von öffentlichen Toiletten mitgenommen habe. Schlimmer war allerdings m die Tatsache, daß ich nicht wußte, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich hatte das Gefühl, daß mein Leben nur so an mir vorbeirauschte. Ich mußte etwas unternehmen. Da habe ich mich entschlössen, es mit dem Schreiben und dem Singen zu versuchen, mit Auftritten auf der Straße und in Coffeeshops. Ich fühlte mich wesentlich besser, auch wenn ich noch in dem Auto lebte.“ Und ihre Jobs als Kellnerin hat sie nicht etwa verloren, weil ihr zu viele Teller hingefallen sind? „Das war einfach total blödsinnig…“, stammelt Jewel. „Das ist keine originelle Geschichte…also, einmal beispielsweise wollte ich nicht mit meinem Boss schlafen und da hat er mich rausgeschmissen…So richtig dämliche Sachen.“ Die Anlaufschwierigkeiten ihres Debütalbums hat Jewel nicht als Durststrecke empfunden, da sie gar nicht damit gerechnet hat, daß das Album so ein immenser Erfolg werden würde: „Ich war schon völlig aus dem Häuschen, als ein paar tausend Stück verkauft waren. Und aus meiner einfachen Lebenssituation im Auto heraus war ich mehr als bereit, auf anstrengende und ausgiebige Touren zu gehen. Meine Mutter sagt, daß ich schon immer sehr hartnäckig war.“

Zwischen Ihrer Mutter Nedra Carroll und Jewel besteht ohnehin eine besondere Bindung, die weit über das übliche Mutter-Tochter Verhältnis hinausgeht. „Sie ist eine großartige, brillante Frau,“ schwärmt Jewel. „Sie ist meine Freundin, meine Managerin und daneben als Extrabonus auch noch meine Mutter. Man könnte uns auch als Partner bezeichnen. Ich stehe dabei in der Öffentlichkeit, wie die Spitze eines Eisberges, und sie ist der große Teil unter der Wasseroberfläche. Sie war immer bei mir. Wir haben nebeneinander in unseren Autos gelebt. Wir sind gemeinsam ganz unten gewesen und auch gemeinsam wieder nach oben gekommen. Ist neben soviel Bewunderung noch Platz für andere Vorbilder? „Im allgemeinen Bereich bewundere ich Leute wie Martin Luther King und Gandhi, die wirklich Großes geleistet haben. Leute, die darauf konzentriert waren, welche Veränderung möglich ist, statt zu verzweifeln. An Autoren schätze ich Bukowski, Ibsen und Pablo Neruda. Im Musikbereich sind es Nina Simone und Ella Fitzgerald. Ich habe immer eher Sängerinnen gehört als Musik von Bands wie den Rolling Stones.“ Auch wenn Jewel ihre Zeit lieber mit Lesen als mit dem Verfolgen des Musikmarktes verbracht hat, so hat sie aus heutiger Sicht dennoch großen Respekt vor den Leistungen von Madonna. „Sie war die erste, die das Geschäft bei den Eiern gepackt hat. Sie hat ein gutes Gespür für das Geschäft, das Marketing und die Musik. Damit hat sie bestimmt vielen Girls das Bewußtsein gegeben, es ebenfalls versuchen zu können.“

JEWEL FREUT SICH DARÜBER, DASS FRAUEN INZWISCHEN EINE wesentlich wichtigere Posiüon im Musikbusiness einnehmen. Sie selber hat auch eine große Rolle auf der ersten, bahnbrechenden „Lilith Fair“-Tournee 1997 gespielt, beklagt aber, daß das Ganze zu sehr von den Medien hochgespielt wird. „Ich denke, es ist eine Art Blasphemie, mich, Sarah McLachlan, Fiona Apple und Shawn Colvin als „Women In Rock‘ zu bezeichnen. Ich finde, daß wir gerade erst anfangen. Ich hatte ein erfolgreiches Album. Na und? Wenn mir das über 20 Jahre gelingen würde, dann wäre das eine Errungenschaft. Frauen wie Janis Joplin, Joni Mitchell, Joan Baez, Patti Smith und Jazz-Sängerinnen wie Ella Fitzgerald und Billie Holiday, die durch die Hölle gegangen sind…das sind Frauen, die sich eine herausragende Position über Jahre erkämpft haben. Da können wir keinem Vergleich standhalten. Andererseits – mir wurde für Auftritte weniger gezahlt als einem Typen. Das hat sich durch Lilith Fair tatsächlich geändert und darüber bin ich froh. Trotzdem ist es von den Medien übertrieben aufgenommen worden und zu einem Aushängeschild reduziert worden. Ich bin froh, daß Frauen ihren verdienten Platz erhalten, mehr Macht bekommen und ernst genommen werden. Dennoch darf man das alles nicht so hoch hängen.“ Nach dem Lobgesang auf die Mutter, muß auch noch etwas nettes über den Vater gesagt werden, den sie bei einem ihrer „Lilith Fair Auftritte mit auf die Bühne geholt hatte: „Er ist ein toller Typ. Sehr charismatisch. Er lebt immer noch in Alaska und beendet gerade die Arbeit an seinem fünften Album. Er schreibt Cowboysongs. Wirklich coole Songs über die Dinge, die er kennt, über sein Pferd, über das Land, in dem er aufgewachsen ist. Ich versuche wenigstens einmal jährlich zu ihm nach Alaska zu fliegen und manchmal kommt er auch zu mir. Als ich mit Emmylou Harris bei Lilith Fair aufgetreten bin, habe ich ihn mit auf die Bühne geholt, da er ein großer Fan von Emmy ist. Er stand neben Emmy und mir vor 30.000 Zuschauern und hat vor Freude geweint. Er konnte kaum einen richtigen Ton treffen, so emotional geladen war er.“