Lange Haare als Kokon


Wer gut gekleidet ist, entscheidet Jan Joswig. Heute vor dem Stilgericht: TOY

Von der Gel-Tolle zum Pilzkopf zur ausgewachsenen Matte – in den ersten Jahrzehnten der Jugendkultur wurden die Haare immer länger, je wilder sich die Kids zusammenrauften. Hair Power war die Losung. Erst die Punks schnitten Ende der 70er-Jahre die Zöpfe ab, die von ihren Trägern beim Marsch durch die Institutionen in Misskredit gebracht worden waren. Lange Haare standen plötzlich für Kompromissbereitschaft. Das verletzte eklatant das Privileg der Jugend, Kompromisse kategorisch abzulehnen. Nach Punk durfte die Langhaarmatte außer im Heavy Metal nie wieder wuchern. Selbst das Psychedelic-Revival der 80er-Jahre beschränkte sich auf Pilzköpfe. Nur metalnahe Grunge-Bands wie Soundgarden kultivierten lange Haare mit Schaumspülung für den Seidenglanz, eine seltsame Mischung aus Punk und kalifornischem Glam-Metal. Sie wirkten so, als beteten sie jeden Morgen vor einem „Conan der Barbar“-Poster.

Mit langen Haaren als barbarischen Mosh-Propellern haben die Breitwand-Psychedeliker von Toy nichts am Hut. Die Hair Power der Musiker im Streicheltierformat (Durchschnittsgröße: 1,68 Meter) ist nicht extro-, sondern introvertiert. Toy schütteln nicht die wilde Mähne, sondern lassen den Vorhang fallen, um sich dahinter zu verbarrikadieren. Genauso wollen ihre Gitarrenwände die Zuhörer nicht wegblasen, sondern einnebeln. Toys Matten sind keine Kampfansage an die Außenwelt, sondern ein Kokon zum seelischen Vergraben. Nie würde ein Toy-Musiker breitbeinig die Gitarrenaxt schwingen. Mit dieser Haltung leiten sie über zur Befindlichkeit der Witchhouser und Chillwaver in deren Wischiwaschi-Existenzialismus und zu den Gothic-Pilzköpfen ihrer größten Fürsprecher, The Horrors. So aus der Zeit gefallen, wie man auf den ersten Blick denkt, sind die langhaarigen Toy also gar nicht. Sie teilen die aktuelle depressive Schlurfigkeit im Pop, visualisieren sie nur über eine andere Traditionslinie als die ewigen Joy-Division-Erben. Die 60s-Muster von Toys Hemden gehen so nahtlos ins Haar über wie auf dem Cover des ersten Pink-Floyd-Albums, als dem Quartett noch der enigmatische Ober-Depressive Syd Barrett vorstand. Depressiv, bunt und Wuschelmatte – sehr viel origineller als depressiv, schwarz-weiß und Undercut-Frisur.

Jan Joswig ist studierter Kunstgeschichtler, wuchs in einer chemischen Reinigung auf, fuhr mit Bowie-Hosen Skateboard und arbeitet als freier Journalist für Mode, Musik und Alltag. Was LL Cool J in den Achtzigern die Kangolmütze bedeutete, ist ihm der Anglerhut.