Kritik

„Pose“ auf Netflix: Warum die 3. Staffel eine milde Enttäuschung ist


Achterbahn der Gefühle: In „Pose“ begleiten wir fast ausnahmslos liebenswürdige und starke Charaktere in den 80ern gleichermaßen zu Kostüm- und Tanzpartys in Ballrooms und zu HIV-Diagnosen. Eine tolle Drama-Serie, die nun nach nur drei Staffeln endete – und leider trotzdem ein paar Längen und Abwegigkeiten aufwies.

Seit dem 23. September 2021 läuft auf Netflix die dritte und letzte Staffel der Erfolgsserie „Pose“. Die von Showrunner Steven Canals erfundene und von Ryan Murphy („Glee“, „American Horror Story“, „The Politician“ u.v.a.) ursprünglich für den Sender FX produzierte Drama-Serie war von ihrem Beginn im Jahr 2018 an schon deshalb ein Novum, weil ihr Cast fast ausschließlich mit trans-, non-binären und nicht-weißen Personen besetzt ist. In „Pose“ folgen wir einer Gruppe von vermeintlich Aussätzigen in den Achtzigern und frühen Neunzigern in New York; Menschen, die in unserer weißen, binären Welt nicht die gleichen Chancen wie andere kriegen. Sie leiden unter Rassismus, Sexismus, Homophobie, Diskriminierung und Stigmatisierung wegen des damals sich verbreitenden HIV-Virus und der Folgeerkrankung AIDS – und schaffen deshalb ihre eigene Welt. Sogenannte Mothers nehmen von deren Familien verstoßene Teenager in ihren Wohngemeinschaften auf, die sich Houses nennen. Viele eint ein Faible und Talent für Kostüme und Tanz: In einem Ballroom treten die verschiedenen Houses regelmäßig in pompösen Kostüm- und Tanzwettbewerben gegeneinander an.

Die ursprüngliche Hauptzielgruppe von „Pose“ war für Canals lange klar: „Schwarz und Latino, queer und trans. Mein Antrieb war ja nun einmal, dass ich mich selbst als Teenager nie auf dem Bildschirm repräsentiert sah und daran endlich mal etwas ändern wollte“, sagte er in einem Interview mit der FAZ. Produzent Murphy intervenierte – zum Glück: „Pose“ ist auch deshalb so gut und wichtig, weil sie die Probleme der Protagonist*innen nicht exklusiv unter sich selbst, sondern als Teil einer Gesellschaft, ausfechten lassen und weil eben diese über Sex, Geschlechteridentifikation und Geschlechtskrankheiten hinaus gehen. Die vorher fast ausnahmslos unbekannten Haupt- und Nebendarsteller*innen leiden unter Problemen, unter denen teilweise auch weniger oft Diskriminierte leiden: In „Pose“ geht es immer wieder um Leistungsdruck, das Bestehen in einer Gesellschaft, die Suche nach einem Gefühl von Anerkennung und Zugehörigkeit, das Finden seines wahren Ichs, familiäre (Un-)Abhängigkeit.

Umso trauriger ist es, dass nach einer sehr starken ersten Staffel die Staffeln 2 und 3 ein paar unnötige Schwächen aufweisen, für deren Anwesenheit es sicher ein paar gute Gründe gegeben haben mag, die in ihrer Gesamtheit aber den fantastischen Ersteindruck von „Pose“ zum Ende hin ein wenig schmälern – zumindest in den Augen unseres Autors.

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„Pose“ ist zu lang, obwohl die Serie nur drei Staffeln umfasst

Dass Staffel 3 auch die finale sein würde, war Steven Canals von Anfang an klar. Warum? „Zum einen weil ich selbst als Fernsehzuschauer es immer gehasst habe, wenn man bei einer Serie irgendwie das Gefühl hatte, sie habe nichts mehr zu sagen und eine Staffel existiere nur, um das Ganze in die Länge zu ziehen. Oder wenn sie einfach nicht den richtigen Schlusspunkt fand. Das wollte ich auf keinen Fall. “ Umso erstaunlicher ist es, dass es auch in der dritten Staffel von „Pose“ Handlungs- und Zeitsprünge wie in der finalen Staffel von „Game Of Thrones“ gibt – und dass manche Nebenschauplätze und Erzählstränge zu viel oder zu wenig des Guten sind:

„Pose“ traut sich zu unglaubwürdige Plots

Angel und Lil Papi? Pray Tell und Ricky? Ein Dorfpfarrer, der für seine wiedergetroffene Jugendliebe Pray sein bisherigen Leben und seine Gemeinde aufgeben will? Eine Watchparty zur öffentlichen Verfolgungsjagd von O.J. Simpson, obwohl doch niemand ahnen konnte, wie lang sich diese ziehen würde? Eine Leiche, deren pragmatische Entsorgung selbst Dexter Morgan staunen ließe? Über viele Nebenplots oder Szenen muss man sich in Staffel 2 und 3 wundern, tragen sie doch nichts zur eigentlichen Geschichte bei, gäben genug Stoff für ein Spin-off her oder lassen schlichtweg kalt. Damit, dass etwa das wunderschöne aufstrebende Model Angel Evangelista – beeindruckend gespielt von Indya Moore – mit dem ehemaligen Drogendealer Lil Papi, der bis dahin eine Art Bruder für sie war, ein Paar wird, will man sich nicht anfreunden. Bei aller Sympathie für seine Rolle: Für Angel wünscht man sich anfangs mehr. Wohlwissend, hier einen Akt der Selbstbestimmung zu erleben.

Damon ist plötzlich weg, ein neuer Freund von Blanca da

Dass zentrale Charaktere in neuen Serienstaffeln plötzlich fehlen, ist nichts Seltenes und hat verschiedene Gründe. Im Falle von Ryan Jamaal Swain, dessen Rolle Damon die erste war, die wir in der ersten Folge von der 1. Staffel „Pose“ sahen und deshalb besonders verfolgten, war es ein persönlicher und sehr tragischer: Während der Dreharbeiten im Juli 2020 wurde seine 24-jährige Schwester erschossen. Die Macher*innen von „Pose“ gaben Swain deshalb Luft, bei seiner Familie zu sein – und schrieben ihn aus den finalen Folgen 2-7 der dritten Staffel „Pose“ heraus. In der ersten Folge ist er noch kurz zu sehen, gibt dem trinkenden Pray Tell ein Buch über Alkoholismus – und zieht als selbst rückfällig gewordener Alkoholiker danach zu seinem Cousin nach Charleston.

Bis man als Zuschauer*in diesen Schritt (und dessen nachvollziehbare Hintergründe) kapiert, hält leider bereits Verwirrung Einzug: Warum verschwindet ein liebgewonnener Hauptdarsteller so plötzlich, und wo kommt Blancas neuer Freund her, mit dem sie bereits seit sechs Monaten zusammen ist, der ihr „House“ und ihre stets so präsente Wahlfamilie aber noch nicht kennengelernt hat?

Die Antwort: Zwischen dem Ende der zweiten und dem Anfang der dritten Staffel liegen drei Jahre. Blöd, wenn man das nicht mitbekommen hat und nachlesen muss.

Angerissene, liegengelassene und angeblich auserzählte Plots

Einer der mindestens für weiße cis-Zuschauer*innen spannendste Plot der ersten Staffel war der des unsicheren Geschäftsmanns Stan, der wie ein gesichtsloser Möchtegern-Nachwuchsbroker in „Mad Men“ aussah: Im Job will er mithilfe seines Chefs Karriere machen, zuhause wartet seine Frau mit zwei kleinen Kindern täglich sehr lange auf ihn: Nach Feierabend fährt Stan durchs Rotlichtmilieu, trifft dort auf Angel und beginnt mit ihr eine Affäre, in der er ihr als eine Art Privat-Freier eine Wohnung mietet und ihr Unabhängigkeit von der Prostitution verschafft. Auch hier fragte man sich zwar, was Angel über sein Geld hinaus in ihm sah und von ihm wollte – aber trotz ihrer maximal unterschiedlichen Lebenswelten einte sie eine Unsicherheit, ein Streben nach Glück und Selbstbestimmung. Stans Frau emanzipierte sich von ihm, ihre gemeinsame oder jeweils eigene Zukunft blieb ungewiss – und wird im weiteren Verlauf von „Pose“ auch nicht weiter erzählt. Schade, weil auch dieser Plot „Pose“ auf eine ganz unübliche Art diverser machte.

Eine andere Szene, die Spannung, Drama und Eskalation versprach und sodann fallen gelassen wurde: der Fotograf, der Angel einst gegen ihren Willen nackt fotografierte, steht bei einem neuen Shooting wieder vor ihr – und nichts passiert.

Woher all das Geld?

Die schöpferische Höhe der Kostüme, Tänze, Choreografien und Sprüche, die im Ballroom Abend für Abend so inszeniert und gefeiert werden, lässt Berlins Karneval der Kulturen oder Hella von Sinnens Outfits in „Alles, Nichts, Oder?“ vergleichsweise grau dastehen. Die Vorbereitung dessen muss unglaublich viel Zeit und Geld kosten. Zumindest letzteres aber ist etwas, das viele der „Houses“-Mitglieder schlichtweg nicht besitzen, wenn sie nicht gerade wie „Mother“ Electra Abundance zur gut bezahlten Domina und Telefonsex-Unternehmerin mit Mafia-Connections umgeschult haben. Wo kommt das her? Da die in „Pose“ so ausladend gezeigte Ballroom-Szene im New York der 80er keine ausgedachte ist, sondern tatsächlich so ähnlich existierte und bis heute existiert, ist anzunehmen, dass die „Houses“ ihre Quellen haben. Da diese in „Pose“ aber an keiner Stelle hinreichend genannt werden, verstärkt sich manchmal der Eindruck eines Märchens. Zumindest in den Feierstunden.

All that being said: Nichtsdestotrotz ist „Pose“ eine unterm Strich ganz wunderbare Serie. Wegen der Primetime-Inklusion von dort bisher Ausgeschlossenen. Wegen des nostalgisch tanzbaren Soundtracks, der mit Madonna, Neneh Cherry, Donna Summer, Shanice, Toni Braxton, Urban Cookie Collective, Janet Jackson, En Vogue und Co. wie ein Best-Of der späten 80er und frühen 90er klingt. Wegen Billy Porter, der für seine famose Rolle als Ballroom-Ansager Pray Tell als erster schwuler, Schwarzer Schauspieler einen Emmy gewann. Wegen so vielem mehr. Und wegen dem, was ME-Autorin Paula Irmschler in ihrer Popkolumne über „Pose“ schreibt (Achtung, Spoiler!):

„Pose“ ist für mich die beste Serie der letzten Jahre, mit den besten Schauspieler*innen, den vielseitigsten Charakteren, der besten Musik, den schönsten Klamotten und der besten Story. Ich finde, man hätte gut noch eine Staffel in den späteren 90ern spielen lassen können (sie spielte von 1987-1994), aber es ist auch okay, dass die Serie jetzt endet, denn sie endet so gut. Und zwar on top auf alledem noch mit einem schönen Seitenhieb auf „Sex and the City“: Die vier weiblichen Charaktere sitzen in einer Bar und der Kellner denkt, sie wollen einen Cosmopolitan bestellen, weil das Sex-and-the-City-bedingt alle Frauen zu dieser Zeit tun. Die grandiose Elektra lehnt ab und ordert Whisky und lässt verlauten, dass man sich nicht von irgendwelchen weißen Frauen vorschreiben lässt, wie man zu leben hat.“