Album der Woche & des Monats

Everything Is Recorded

Everything is Recorded by Richard Russell

XL/Beggars/Indigo

Das von XL-Recordings-Chef Richard Russel orchestrierte Electronica-Projekt verbindet mit großer Leichtigkeit Jung und Alt, Kopf und Seele.

Wir geben gerne zu, dass jede neue Veröffentlichung von XL Recordings in unserer Inbox für erhöhten Pulsschlag sorgt. Was da allein in den vergangenen zwei Jahren alles rauskam, Ibeyi und King Krule, The Avalanches und Kaytranada, Jack White und Radiohead – sogar die Tante aus der Provinz mit dem „Bunte“-Abo hat eine XL-CD zu Hause, die von Adele. Seit beinahe 30 Jahren hält Richard Russell den Laden zusammen, indem er neue Bands sucht und etablierten ein bestmögliches Zuhause gibt. Teil seiner Strategie ist die offene Studiotür: Russell ist kein Managertyp, in erster Linie versteht er sich als Produzent, Bandbetreuer und auch Musiker – wenn auch nicht als sehr guter Musiker, wie er selbst sagt.

Seine kreative Spielwiese ist das „Copper House“-Studio in London, Künstler kommen und gehen, hinterlassen Eindrücke oder Gesangsspuren. Russell hat einige Jahre alles gesammelt: nicht als Aufnahmen auf der Festplatte, eher als Inspirationen im Kopf. Mit der Zeit fügte sich die Collage einer elektronischen Musik, die alles kombiniert, was in den vergangenen Jahren in diesem Studio entstanden ist. Als Russell dieses Bild für stimmig und komplett genug hielt, machte er sich an die Arbeit. Everything Is Recorded heißt das Projekt, fast so heißt auch das Album. Bei der Aufnahme hat sich Richard Russell helfen lassen, denn – er sagt es ja selbst: Ein sehr guter Musiker ist er nicht.

Weil der Brite ein Label leitet, das unfassbar angesagt und zugleich wahnsinnig erfolgreich ist, hätte er nur ein paar Kurznachrichten schreiben müssen – und die gesamte große Pop-Prominenz wäre angerückt. Aber der Mann wollte keine Namen droppen, sondern zielgerichtet genau die Platte produzieren, die da seit Jahren in seinem Kopf herumschwirrt. Unter den Gästen sind daher Leute, die ihn in diesem Sinne helfen konnten. Stimmen wie die von Sampha vom XL-Sublabel Young Turks und den beiden Schwestern von Ibeyi, dazu Saxofonist Kamasi Washington, die Rapper Wiki oder Giggs sowie zwei Veteranen, die den jungen Popfan Richard Russell in den 80er-Jahren begeistert haben: Peter Gabriel und Green Gartside, Gründer der Polit-Pop-Ästheten Scritti Politti. Beide sind aber nicht nach London gekommen, um kurz eine Melodie einzusingen. Ihre Stimmen sind gar nicht zu hören, beteiligt waren sie an der Komposition und der Produktion.

Richard Russell gönnt sich den Luxus der strengen Edition

„Bloodshot Red Eyes“ mit Green Gartside ist eine herausragende Electronica-Ballade, die ausgehend vom Behaglichkeitssound der MOON SAFARI über dringlichen Neo-R’n’B und Gospel als Sophisti-Pop ausfaded, es singt eine junge Soulstimme namens Infinite, ein junger Typ aus Staten Island und Sohn von Ghostface Killah. Wenn auch der weitere Wu-Tang-Nachwuchs so zärtlich klingt, werden wir an der jungen Generation noch unsere Freude haben. „Purify“, entstanden mit Peter Gabriel, läuft gerade mal eineinhalb Minuten; es ist in dieser gemeinsamen Session sicherlich viel mehr Material entstanden, aber Russell gönnt sich den Luxus der strengen Edition: Die Ergebnisse von Sessions mit Brian Eno oder Warren Ellis, über die berichtet wurde, sind gar nicht zu hören. Dabei läuft EVERYTHING IS RECORDED keine 40 Minuten.

Zu wenig ist das aber nicht, denn in dieser Zeit passiert eine Menge. Nie wird es laut oder aufdringlich, Russell orientiert sich an den ästhetischen Koordinaten des britischen Late-Night-DJs Gilles Peterson, dessen musikalische Nachfahren weltweit Millionen Fans haben. Electronica funktioniert als Matratze, auf der sich genüsslich Jazz und Afrobeat, Soul und HipHop ausbreiten. „Close But Not Quite“, schon vorab auf der Debüt-EP erschienen, koppelt moderne Drops mit einem klassischen Motown-Bass, in der Mitte des Tracks scheint es für ein paar Takte, als würde der Vintage-Sound gewinnen, doch Klangarchitekt Richard Russell lässt keine Sieger zu: Samphas Stimme bleibt intim und brüchig – dieser Soul ist zeitlos. „She Said“ mit dem aus Nigeria stammenden und in London lebenden Rapper Obongjayar zieht das Tempo ein wenig an, Kamasi Washington spielt in der letzten Minute des Tracks ein kurzes Solo, viel länger ist er auch beim basslosen Dub-Track „Mountains Of Gold“ nicht zu hören, dafür bilden Sampha, die beiden Ibeyi-Schwestern und der US-Rapper Wiki eine kongeniale Vokalgruppe. Ibeyi veredeln auch das Neo-Soul-Stück „Cane“, mit dem sich Russell als potenzieller Produzent des neuen Solange-Albums bewerben könnte. Wird er aber nicht machen. Denn die Leute kommen ja zu ihm. Nicht umgekehrt.

Die fünf besten Songs: 1. Bloodshot Red Eyes 2. Close But Not Quite  3. Cane 4. She Said 5. Mountains Of Gold

Klingt wie: DJ Shadow: ENDTRODUCING….. (1996) / Gilles Peterson: Worldwide PROGRAMME 1 (2000) / Sampha: PROCESS (2017)

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