Andrew Fletcher: Der dritte Mann


Wie hat sich Depeche Mode seit den Tagen als Teflonteenieband vor 30 Jahren verändert? Eine Antwort gibt dieser Fragebogen durch Alphabet und Zeit. Am Telefon zugeschaltet: Andy Fletcher.

+++ Bei diesem Interview handelt es sich um ein über zehn Jahre altes Fundstück aus unserem Archiv, das wir anlässlich des Todes von Andrew Fletcher aktualisiert haben. +++

A

All things change

Herr Fletcher, alle Dinge gehen ihren Lauf – wie hat sich Depeche Mode in den vergangenen 30 Jahren verändert?

So viel Zeit haben Sie nicht! Nein, es ist zu viel passiert, seit den Tagen, an denen wir hinten in einem Van kauerten und nach der Arbeit die An­züge abstreiften, um Zukunftsmusik zu spielen.

Ist Depeche Mode noch eine Band – oder vielmehr ein Unternehmen?

Ich mag den Gedanken, dass wir noch immer eine Band sind.

Was würde der 16-jährige Jungchrist Andy wohl über den Mann sagen, zu dem er heute geworden ist?

Ehrlich gesagt, hatte ich mit 16 keinerlei Erwartungen. Eigentlich wollte ich nur einen sicheren Job. Am liebsten bei einer Bank.

B

Basildon

Wie fühlte es sich an, in Basildon aufzuwachsen?

Basildon ist eine New Town, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. Eine Schlafstätte für eifrige Arbeiter. Und ehrlich gesagt war dies nicht so schlecht: Wir hatten ein Haus, einen Garten, sogar eine Toilette in den eigenen vier Wänden.

Als was für einen Jungen muss man sich Fletch vorstellen?

Ich war ein ziemlicher Nerd, gut in der Schule, frommer Christ, ein eifriger Kricket- und Fußball-Spieler. Vince kannte ich aus der Boys Brigade (christlich-militärische Pfadfinder – Anm. d. Red.), Martin traf ich mit 11 in der Schule. Damals war es okay, in Basildon aufzuwachsen. Leider ist die Stadt heute ein Ort mit hohen Arbeitslosenzahlen, rauchenden Teenage-Mums und dergleichen.

C

Composition of Sound

Bevor Dave Gahan der Band beitrat, firmierten Sie unter dem Namen Composition of Sound. Wäre diese Band ebenso erfolgreich geworden wie Depeche Mode?

Niemals. Depeche Mode klingt verwegener, geheimnisvoller.

D

Deutschland

Wie erklären Sie sich die Liebschaft zwischen der Synth-Band und ihren treuesten Anhängern?

Wirklich rational kann ich es nicht erklären: Ist es die romantische Veranlagung der Deutschen zu schwerem, teilweise düsterem Synth-Pop? Keine Ahnung! Andererseits haben wir wirklich hart dafür gearbeitet. Das erste Konzert außerhalb Englands fand in Hamburg statt. Und: Die Deutschen haben es uns sehr hoch angerechnet, dass wir in den Hansa-Studios aufgenommen haben.

E

Enjoy The Silence

Jede Show, das alte Lied: Wie motiviert man sich, wenn man seit Jahren dieselben Hits runterleiert?

Wir nehmen es sportlich. Unsere Shows haben ja fast schon einen Musical-Charakter, und auch dort geht es darum, eine gute Darbietung abzuliefern. Abend für Abend.

F

Fans

Kaum eine Band dieser Tage hat derart loyale Fans wie DM. 

Wir haben einzigartige Fans. Und: Sie haben erstklassige Manieren. Sie sind höflich, nicht aufdringlich, und wissen sich zu benehmen.

Manch einer reist Ihnen seit 30 Jahren hinterher.

Und sie sind längst Teil von Depeche Mode, echte Freunde. Sie waren von Anfang an dabei. Ohne diese Hardcore-Fans wäre Depeche Mode nicht das, was es heute ist …

… größer als die eigentliche Band?

Absolut richtig!

G

Gahan/Gore

Zwei hyperegomane Kollegen: Sie waren immer der dritte Mann im Band-Gefüge.

Ehrlich gesagt war es schwieriger, als wir zu viert waren.

Wie geht es Mr. Gahan dieser Tage?

Er lebt sehr gesund. Noch wichtiger: Es geht ihm gut. Und, soweit ich das beurteilen kann: Er ist glücklich.

H

Hits

Im Februar 1981, vor 30 Jahren also, hatte die Band ihren ersten kleinen Hit: „Dreaming Of Me“ chartete auf Platz 57 der englischen Hitparade. Können Sie sich an den Tag erinnern, als dies passierte?

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als ich das Stück erstmals im Radio hörte: Ich war zu Hause, hörte die ersten Akkorde und konnte mein Glück kaum fassen.

Dennoch kündigten Sie Ihren Job in der City vorerst nicht.

Nein, dafür hatte ich zu viel Angst.

I

Internet

Depeche Mode hat mehr als 100 Millionen Alben seit 1981 verkauft. Aber auch eine Band wie Depeche Mode leidet unter der Piraterie im digitalen Zeitalter.

Verstehen Sie mich nicht falsch, aber: Das Internet ist großartig für Depeche Mode. Unsere Fans können sich austauschen, organisieren – und schaffen so etwas, das einzigartig ist, etwas, das früher niemals möglich gewesen wäre.

J

Just Can’t Get Enough

Herr Fletcher, wie lange noch?

Darüber machen wir selber Witze. Und zwar schon lange. Insgeheim hoffen wir natürlich, nicht so lange auf der Bühne zu stehen wie die Stones. Ich bewundere die Stones für alles, was sie erreicht haben. Dennoch hoffe ich, dass wir früher den Abgang schaffen.

K

Kick-off

Das erste Konzert – woran erinnern Sie sich?

Das war im Mai 1980. Ich erinnere mich daran, dass sich Dave beinahe in die Hosen gemacht hat. Er hatte wirklich Schiss. Martin fiel es leichter, da er in beiden Bands spielte, die an dem Abend auftraten.

Wie lange dauerte die erste Show?

Ungefähr 40 Minuten.

Wie viele Zuschauer standen da?

Etwa 100.

Und danach haben Sie sich erst einmal richtig betrunken?

Das haben wir schon davor. Sonst wären wir niemals angetreten.

L

Legacy

Was würden Sie denn gerne im Lexikon für Populärmusik aus dem Jahr 2100 unter dem Stichwort „Depeche Mode“ lesen?

Darum muss ich mich Gott sei Dank nicht mehr kümmern, schließlich bin ich dann schon tot. Deshalb interessiert mich das auch nicht mehr.

M

Manager

Ein Journalist notierte einst: „Die Arbeitsteilung bei Depeche Mode ist seit Langem wie folgt festgelegt: Martin Gore schreibt die Songs, Dave Gahan singt sie und Andy Fletcher erscheint bei Foto-Terminen und löst die Schecks ein.“

Und nicht einmal das stimmt: In Wirklichkeit löst Dave die Schecks ein. Er war immer derjenige, der früher die Scheckbücher in einer Tasche mit sich rumtrug, wenn wir unseren Finanzberater trafen.

N

Never change a winning team

Sie trafen Daniel Miller im Bridgehouse vor 30 Jahren. Seither sind Sie sich treu geblieben.

Ja, mit ihm hatten wir wahnsinnig Glück. Er kam nach der Show zu uns und stellte sich vor: „Hi, I am Daniel.“

Der Rest ist Geschichte. Offen gestanden ist Daniel Miller natürlich viel mehr als nur unser Labelchef: Er ist eigentlich das sechste Mitglied von Depeche Mode. Danny war geradezu besessen von seinen Synthesizern, manchmal scherzten wir, er würde die Handbücher einfach aus Spaß auf der Toilette lesen.

O

Older and wiser

30 Jahre Depeche Mode, 30 Jahre Wahnsinn: Wie hat sich das Leben als Band verändert?

Je älter wir werden, desto besser werden unsere Shows.

Was auf den gesünderen Lebenswandel zurückzuführen ist.

Natürlich. Martin ist jetzt seit vier, fünf Jahre trocken, Dave schon viel länger clean. Das muss sich ja irgendwie bemerkbar machen.

Hängt Depeche Mode als Band heutzutage noch backstage ab?

Martin und ich schon, Dave nicht. Er fährt nach einer Show immer direkt ins Hotel, telefoniert mit seiner Familie, entspannt. Er braucht das.

P

Playing The Angel

Gerüchteweise haben Sie im Vorfeld zu den Aufnahmen geschickt die Herren Gore/Gahan besänftigt und es ermöglicht, dass beide Stücke zum Album beitragen.

Es war viel banaler als angenommen: Dave hatte angefangen, selber Songs zu schreiben, also war es ihm wichtig, dass diese gehört werden. Das kann ich sehr gut verstehen. Und Martin natürlich auch. Also haben wir uns hingesetzt und darüber geredet. Natürlich unter der Prämisse, dass Martin der Haupt-Songschreiber der Band war, ist und bleibt.

Q

Quitting

In den Neunzigern gab es Zeiten, in denen wartete man nur auf die Presseerklärung, die das Ende von Depeche Mode verkünden würde: Gahan verbrachte Tage und Nächte in polytoxen Sphären, weder Plattenfirma noch Fans noch die Band wusste, wie es um ihn steht, ob er noch lebt. Gab es nie einen Moment, an dem Sie dachten: „Bis hier und nicht weiter!“?

Nein, den gab es nicht. So viel ich weiß, gab es den bei keinem von uns. Vor allem nicht bei Dave: Die Band war alles, was er noch hatte.

R

Rumors

Welches sind die drei Lieblings­gerüchte, die Ihnen über Depeche Mode zugetragen wurden?

Oh, das ist sehr, sehr schwer. Irgendwie vieles und doch wieder gar nichts. Leider fällt mir gerade gar nichts Konkretes ein, sorry.

S

Songwriting

Gab es eigentlich einen Song, den Sie gerne beigesteuert hätten?

Nein, wieso sollte ich auch? Kaum eine Band kann auf derart großartige Songwriter verweisen wie Depeche Mode. Mit Vince und Martin hatten wir die großartigsten Songwriter, die in den vergangenen 30 Jahren aus England hervorgegangen sind.

Früher haben Sie auf manchen Songs immerhin die Background-Vocals mitgesungen.

Ja, aber in einer Band, in der zwei Menschen so gut singen können, braucht man keinen dritten Mann.

T

Toast Hawaii

Dabei gibt es doch ein unveröffentlichtes Solo-Werk: Toast Hawaii.

Das waren Cover-Versionen. Dummerweise gibt es zwei Kopien. Eine besitze ich, die andere Martin. Wenn also irgendwann einmal das Ding im Internet landet, kann es nur Martin hochgeladen haben. Aber: Es war alles nur ein großer Witz.

Aber mit Dave Gahan am Schlagzeug, Alan Wilder an der Gitarre …

… und Martin an den Gitarren. Ja, eigentlich war es ziemlich lustig.

Den Namen entliehen Sie Ihrem Leibgericht in der Kantine der Hansa-Studios.

Die Toast Hawaii waren legendär.

Wollen Sie es nicht irgendwann doch noch der Welt schenken?

Als Beigabe zum nächsten Musikexpress vielleicht?

Wie gesagt: Meine einzige Sorge ist, dass Martin tatsächlich eine Pressung davon besitzt.

U

Sound of the Universe

Kaum eine andere Tour in der Musikgeschichte war größer angelegt. Geht es noch größer, gewaltiger, massiver?

Ich glaube nicht, nein. Andererseits: „Sounds of the Stratosphere“ klingt ziemlich imposant.

V

Vince Clark

Gab es in den Achtzigern eigentlich eine versteckte Rivalität zwischen Ihnen und Vince?

Nein, niemals, nicht einmal, als er Depeche Mode verlassen hat. Wir waren zwar als Musiker getrennt, blieben aber immer Freunde. Vince ist toll. Gerade hat er einen Beitrag für unser neues Remix-Album beigesteuert.

W

Alan Wilder

Verraten Sie uns, was zwischen Ihnen und Wilder passiert ist, warum er aus der Band ausgetreten ist?

Nichts, was so schlimm wäre, als das wir heute nicht Freunde sein könnten. Alan hat ebenso wie Vince gerade einen Remix abgeliefert.

X

XXX

Gibt es einen Moment in den vergangenen 30 Jahren, der Ihnen nach wie vor eine Gänsehaut bereitet? Etwas, was Sie noch nie der Presse verraten haben?

Ha, nice try. Next!

Y

30 Years

Haben Sie sich als Band eigentlich schon über das große Jubiläum unterhalten?

Wir versuchen, es nicht an- oder auszusprechen. Don’t mention the 30!

Eine verdammt lange Zeit.

Und deshalb ist es gut, dass wir so früh angefangen haben.

Z

Zen

Wie behält man angesichts all des Wahnsinns, der in 30 Jahren passiert ist, seine Sinne beisammen?

Lassen Sie es mich so versuchen: Wir sind vielleicht eine Riesenband, aber keine Celebrities. Wir können immer noch ins Pub oder Kino gehen und ein ziemlich normales Leben führen.