Der geklaute Seitensprung


Tony sprang plötzlich auf, fegte mit Elan einen knallgrünen, breiten Schlapphut vom Schreibtisch, fing Ihn auf und warf Ihn wie eine Papierschwalbe dem blonden, hageren Mädchen zu. „Setz‘ den auf“, rief er begeistert, „das macht sich gut vor dem violetten Hintergrund!“ Das Mädchen fing den Hut mit einer milden Bewegung auf und stülpte sich diesen Ober Ihre langen Haare.

„Zieh Dir die Krempe ein bisschen mehr ins Gesicht“, rief Tony. Umständlich und langsam fing sie an, dieses Ding von Hut auf Ihrem Kopf zurechtzurücken.

„Stop! Gut so! Das Kinn etwas tiefer – Du musst von unten nach oben hochgucken, verstehst Du -Jawohl! Gut so …“ Nur das Klicken der Kamera war zu hören, und Tony’s Schritte auf dem knarrenden Holzfussboden, wenn er näher auf das Modell zuging. Ich wagte nicht zu fragen, ob ich Musik machen könnte. Tony hasste es, während seiner Arbeit angesprochen zu werden. Und ich langweilte mich. Er hatte dieses Mädchen mit dem grünen Hut schon vor einer Stunde nach Hause schicken wollen. Aber wenn seine Arbeit ihn einmal begeisterte, dann existierte für ihn keine Uhr und keine Stunde. Irgendwie verstand und mochte ich das an ihm – deshalb setzte ich mich auf die Fensterbank und wartete.

MAN MUSS GROSSZÜGIG SEIN

Irgendwie musste ich eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, stand das blonde Midchen bereits an der Tür und verabschiedete sich. Tony schloss die Tür hinter ihr.

Verschwunden war ausser dem Mädchen auch seine Energie. Träge und langbeinig latschte er durch den Raum – blieb einen Augenblick vor der violetten Leinwand stehen, legte den grünen Hut wieder auf den Schreibtisch und drehte sich dann zu mir um.

„Machst Du Kaffee?“ „Nein“, sagte ich.

„Warum nicht?“ „Well Du selbst welchen machen kannst“.

„Ah ha, da hast Du recht.“ Er suchte in drei verschiedenen Schränken nach – dem Kaffee, bis er ihn fand und zog damit in die Küche.

Ich sah durch das Fenster hinunter auf die Strasse. Ein Bus hielt, der kleine, dicke Mann von nebenan stieg aus und eilte mit kurzen, schnellen Schritten über die Strasse. Er tat mir leid, der kleine dicke Mann. Ich wusste nicht, warum. Eine dünne, gefrorene Schneedecke lag über der Strasse.

Hinter den gegenüberliegenden Häusern ging die Sonne unter.

Tony kam mit zwei Bechern Kaffee zurück. Er blieb vor mir stehen, musterte mich kritisch, so wie er es bei seinen Fotomodellen immer tat „Du solltest den Kaffee ohne Zucker trinken, meine Liebe“, sagte er, „Du bist ein bisschen dicker geworden in letzter Zeit.“ „Und Du bist mal wieder fremdgegangen in letzter Zeit“ sagte ich auf gut Glück. „Woher weisst Du…“ fragte er schnell und brach dann plötzlich ab. ich nahm ihm einen Becker Kaffee ab und tat mir Zuxker hinein. „Ich weiss überhaupt nichts“, sagte ich, „dass heisst, Ich wusste nichts. Jetzt weiss Ich.“ Er setzte sich auf den Fussboden und zündete sich eine Zigarette an. Er wirkte müde, schlaff und abgespannt.

Es war nicht fair von mir, Ihm jetzt Vorwürfe zu machen – er hatte zu wenig Energie, um sich zu verteidigen.

Andererseits wollte ich nicht wirklich, dass er sich verteidigte. Es gab da nichts zu verteidigen. Ich wollte nur, dass er die Wahrheit sagte. Ich wusste, dass er nicht immer, wenn er Arbeit vorschob, wirklich arbeitete. Ich hatte schon manchmal am Telefon Mädchen abgewimmelt, die mit Ihm eine Verabredung hatten. Natürlich nervte mich das ein bisschen. Aber ich stritt reich nicht mit ihm wegen dieser Mädchen.

Man muss grosszügig sein, sagte ich mir immer. „Tony?“ „Ja?“ „Du musst mich nicht Immer so viel betrügen.“ „Tue ich doch gar nicht“ gab er ziemlich kleinlaut von sich.

„Erzähl‘ nichts vom Pferd“, sagte ich. „Also gut, ich flirte ab und zu mal mit Irgen d wel che n Mädchen…“ „Was Du machst, ist kein Flirt mehr…“ „Aber es ist nie etwas Ernstes…“ „Hör zu, Tony,“ sagte ich. „Du kannst machen, was Du willst. Du kannst auch flirten, mit wem Du wUlst Das ist Dein gutes Recht und Ich nehme es Dir nicht übel. Aber ich werde mich auch mit anderen Knaben treffen, das musst Du verstehen.“ „Nein, das verstehe ich nicht! Soll das die Rache des kleine Mannes sein?“ „Nein, das soll nur ein Ausgleich für mich sein. Ein bisschen Selbstbestätigung, weiter nichts.“ Er sprang auf und umhalste mich. Ich wusste sehr gut, dass ich gegen seine spontanen Gefühlsäusserungen machtlos war.

„Schätzchen, ich werde mit keinem anderen Mädchen mehr flirten, bestimmt nicht! Und Du darfst nicht mit anderen Knaben treffen, sonst bleibst Du noch an einem anderen hängen! Willst Du mir das antun?“ Seine Sorge und Befürchtung waren echt. Alle seine Meinungen waren echt nur änderten sie sich so schnell!

„Okay“, sagte ich und kam mir dabei vor, als hätte ich einen Kampf verloren. „Machen wir das so.“ Er hob seinen Kopf von meiner Schulter und strahlte mich an. Nein, ich hatte keinen Grund, Ihm nicht zu glauben.

KEINE ECHTE RIVALIN

Nachdem ich dreimal geklingelt hatte, schlürfte die Wirtin mit langsamen, knarrenden Schritten herbei, um mir zu öffnen.

„Ach, Sie sind es, mein Kind. Der Tony Ist gar nicht Im Haus. Gehen Sie doch schon rein und warten Sie auf ihn. Da ist übrigens schon eine andere junge Dame, die auf ihn wartet.“ Ich bedankte mich.

Auf der Fensterbank – meinen Stammplatz hockte ein langhaariges Wesen und starrte aus dem Fenster auf die Strasse. Sie zuckte zusammen, als die Tür geöffnet wurde und Ich eintrat‘ „Guten Tag“, sagte Ich.

„Oh -„

Sie guckte mich ziemlich entsetzt an. Ich konnte das verstehen, da sie sicher nicht auf mich wartete!

Ich zog meinen Mantel aus und hängte Ihn über die Kuckucksuhr. Das Mädchen beobachtete mich. Ich überlegte mir, ob ich sie duzen oder siezen sollte.

Vielleicht sollte ich mich vorstellen, dachte ich dann.

Ich ging auf sie zu. Sie wischt sich mit ihrem Schal über die Augen und senkte den Kopf.

Sie weinte.

Ich setzte mich zu ihr auf die Fensterbank, zog meine Zigaretten aus der Tasche und hielt sie ihr hin.

„Was ist denn“, fragte ich vorsichtig.

„Sie hob den Kopf ein bisschen, nahm eine Zigarette.

„Ich habe…“ Sie brach ab, griff nach der Streichholzschachtel neben sich und riss ein Streichholz an. Ihre Hand zitterte etwas.

„Was hast Du?“ fragte Ich nach.

„Gestern zwei Stunden habe Ich auf ihn gewartet…“ „Auf Tony?“ „Ja. Im Stadtcafe. Wir waren verabredet Aber er ist nicht gekommen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich dachte, er würde mich anrufen, aber er hat das nicht getan. Und jetzt dachte ich, er wäre heute hier. Aber er kommt auch jetzt nicht…“ – Schweinerei “ dachte ich. Laut sagte ich: „Aber das ist kein Grund zum Weinen! Stell Dir vor, Du hättest Dir die Wirbelsäule gebrochen! Das wäre viel schlimmer!“

Sie lächelte mich schüchtern an.

Sie war unheimlich süss. Ich hatte sie gern. Und das obwohl sie eigentlich meine Rivalin war! Plötzlich begriff ich, dass sie keine Rivalin war.

Mir wurde klar, dass keine von Tony’s Seitensprüngen eine echte Rivalin für mich war. Er hatte die Wahrheit gesagt: Er nahm die Sache nicht ernst. Ich hatte keinen Grund, misstrauisch zu sein ich. brauchte keine Angst zu haben, dass mir dieses traurige, kleine Mädchen meinen Tony wegnahm! Gleichzeitig wurde ich wütend. Es war weiss Gott nicht die feine, englische Art, ein Mädchen zwei Stunden im Stadtcate sitzen zu lassen! Und unfair, sich dieses Mädchen anzulachen, und sie dann fallenzulassen, obwohl er hätte wissen müssen, wie empfindlich sie war!

„Wie heisst Du“, fragte ich.

„Sybille.“

„Ich heisse Susanne.“

Sie lächelte mich an. „Bist Du seine Freundin?“ Ich zögerte. „Du brauchst nicht zu sagen, Du wärest seine Schwester, nur um mich zu schonen“, kam sie mir zuvor.

„Weisst Du, Sybille,“ sagte ich, „ich möchte Dir gar nicht wünschen, dass du Tony noch öfter siehst Du hättest zuviel Arger mit ihm – und ich glaube, dem bist Du nicht gewachsen.“

Sie nickte stumm.

Wir warteten nicht auf Tony. Er sollte nicht sehen, dass Sybille auf Ihn gewartet hatte. Das hätte Ihn eingebildet gemacht.

Sybille und ich gingen ins Kino und guckten uns einen atemberaubenden Krimi an. Wir tauschten gegenseitig unsere Telefonnummern aus und nahmen uns vor, immer dann, wenn Tony zu arbeiten oder angeblich zu arbeiten hatte, unsere Zeit zusammen zu verbringen.

Ich hatte Tony seinen „Seitensprung“ geklaut.