Kritik

„Freud“ Staffel 1 auf Netflix: Wie „Babylon Berlin“ im Fiebertraum


In der ersten Netflix-Serie aus Österreich stellt „4 Blocks“-Regisseur Marvin Kren den Vater der Psychoanalyse ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Ergebnis ist kein Biopic, sondern eine düstere Mixtur aus Crime, Mystery, Horror – und am Ende einfach zu viel des Guten.

Eine Serie über Sigmund Freud verspricht interessant zu werden: Die meisten haben schon mal von seinen kontroversen Ausführungen zum Ödipuskomplex und Penisneid gehört. Und uns allen geht regelmäßig der vermeintliche „Freud’sche Versprecher“ über die Lippen. Sein Verständnis unseres Seelenlebens ist, damals wie heute, höchst umstritten. Seine Theorie des Unbewussten als eigentlicher Herrscher über uns Menschen, wabert dennoch – oder gerade deswegen – bis heute in den verschiedensten Fachrichtungen umher. In der (Pop-) Kultur sowieso.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Und so steigt die Netflix-Serie passenderweise auch gleich mit den zweifelhaften Taktiken ein, mit denen der junge Freud (Robert Finster, besonders charismatisch) um seine eigene Reputation kämpft. Um den führenden Köpfen der Wiener Ärzteschaft mit einer Vorführung sein Können zu beweisen, probt er am Vortag die Hypnose einer stummen Patientin, die ihre Stimme aufgrund eines tiefliegenden Schocks – ausgelöst durch den tödlichen Kutsch-Unfall ihrer Tochter – verlor. Als er sie mit goldener Taschenuhr und warmen, österreichischem Singsang in Trance versetzt, die verhängnisvolle Situation noch einmal heraufbeschwört und sie im entscheidenden Moment dazu auffordert zu schreien, findet die Arme plötzlich ihre Sprache wieder. Welch ein Wunder!

„Better Call Saul“ Staffel 5 auf Netflix: Kein Eis für Kriminelle – Unser Zwischenfazit

Scharlatan oder verkanntes Genie? Die Serie entscheidet sich für Letzteres

Doch so einfach ist es nicht: Die angebliche Patientin ist in Wahrheit seine Haushälterin (Brigitte Kren – ja, tatsächlich die Mutter des Regisseurs Marvin Kren) und der vermeintliche Geniestreich nur ein gut inszeniertes Schauspiel. Aber was soll er auch machen? Für seine Ausführungen zu unterdrückten Trieben, Erinnerungen und Gedanken als Auslöser von Krankheiten wie Hysterie, wird Freud von der medizinischen Elite zu der Zeit noch verlacht. Also muss rhetorisches Talent und ein bisschen Hang zum Faken her. Aber Achtung: Die Dialoge präsentieren sich an dieser Stelle alles andere als gekonnt. Der „4 Blocks“-Regisseur Marvin Kren beweist, dass starke Beginne genau sein Ding, aber wohlformulierte Dialoge eher zu seinen Schwächen gehören.

„Kingdom“ (Staffel 2) auf Netflix: Der neue Zombie-Maßstab aus Korea

Wer nun aber glaubt, in den acht Folgen gehe es darum, wie sich der junge Doktor trotz Scharlatanerie einen guten Namen macht, irrt. Denn die Hypnose gelingt, ohne Erklärung weshalb, bei der Darbietung vor Publikum wider Erwarten zum ersten Mal. Allerdings nicht, wie sie soll: Die eigentlich gesprächige Haushälterin fühlt sich in Trance derart in die Rolle der traumatisierten Mutter versetzt, dass sie vorübergehend verstummt. Freuds Fähigkeiten entwickeln sich zur rechten Zeit, möchte man meinen, denn in Wien ereignen sich plötzlich höchst mysteriöse Mordfälle, deren Aufklärung einen Blick in die Tiefen der menschlichen Psyche und bald schon einen Sinn für das Übersinnliche erfordern. Nach und nach wird klar, dass die Täter als fremdgesteuerte Marionetten Teil einer größeren Verschwörung sind.

„Babylon Berlin“, angereichert mit einer Portion Okkultismus

Dabei ist Freud dem Übersinnlichen zunächst abgeneigt. Mit seinem Freund Arthur Schnitzler (Noah Saavedra) taucht er in die Dekadenz des „Who is who“ Wiens ein. Die gelangweilten, und deshalb umso sensationsgierigeren, Gestalten, die sich die Zeit am liebsten mit Séancen im Palais des Grafenpaars Szápáry (Anja Kling und Philipp Hochmair) vertreiben, stoßen den jungen Doktor ab. Diese Szenen, in denen sich die Serie als Sittenportrait präsentiert und Freud sich in seinen Diagnosen zum Geisteszustand der Gesellschaft zu poetischen Meisterleistungen aufschwingen darf, sind eindeutig die stärksten.

Erschreckend aktuell: In der 3. Staffel „Babylon Berlin“ sehen wir, wie Demokratien sterben

Ironischerweise fühlt man sich genau dann unweigerlich an „Babylon Berlin“ erinnert: Die große Gefahr weilt mitten unter den Feierwütigen, doch statt sie wahrzunehmen, stürzt sich alles in den Rausch. Während sie im Berlin der Zwanziger von extremistischen Gruppierungen ausgeht, die die Weimarer Republik zu Fall bringen wollen, haben wir es im Wien des Jahres 1886 mit ungarischen Revolutionären zu tun, die der k.u.k.-Monarchie an den Kragen wollen. Und das, statt mit Gewalt, Sabotage und Propaganda, eben mit okkulten Kräften. Selbst mit einem geheimnisvollen, durch den Krieg traumatisierten Polizisten, hier Alfred Kiss (Georg Friedrich), kann die Serie aufwarten. Und was Gereon Rath schließlich sein cleverer Sidekick Charlotte Ritter ist, ist für Freud das Medium Fleur Salomé (Ella Rumpf), die ihn für das Mystische öffnet. Freud lernt ihre Visionen der sich häufenden Bluttaten zu entschlüsseln und mit vereinten Kräften begeben sie sich auf Spurensuche. Die Erzählung verlässt bekannte Pfade und stürzt sich in einen düsteren Mix aus Mystery, Crime und Horror.

Ein interessanter Genre-Cocktail verkommt zum Exzess

Was als eine spannende Kombination verschiedener Genres beginnt, die echtes Potenzial birgt im Serien-Dschungel hervorzustechen, steigert sich bald zum Exzess – sowohl vor der Kamera als auch in der filmtechnischen Bearbeitung. Nahezu jede Figur erlebt früher oder später den absoluten Kontrollverlust. Das führt ab der zweiten Hälfte der Staffel dazu, dass sich das Geschehen zunehmend in einer richtungslosen Aneinanderreihung von Blutorgien und sexuellen Eskapaden verliert. Solange, bis selbst die gröbsten Schockmomente ihre Wirkungen verfehlen. Das liegt auch an der ausladend künstlichen Art der Inszenierung von Wahn, Hypnose und Fiebertraum. Überlappende Einstellungen und ein flammendes Kolorit werden zu ostentativ eingesetzt, um das Gefühl der Trance nachempfindbar zu machen.

„The Stranger – Ich schweige für dich“ auf Netflix: Die Fremde, die Leben ruiniert

Fazit: Tragischerweise weiß „Freud“ also genau dann am wenigsten zu überzeugen, wenn die Serie altbekannte Bahnen verlässt und sich an einem interessanten Genre-Cocktail versucht. Am Ende wünscht man sich, die Netflix-Produktion wäre doch etwas mehr zeitdiagnostisches Biopic als trashiger Mystery-Stoff. Wäre der Balanceakte geglückt, hätte sie ein kleines Serienjuwel werden können. Die Anlagen dazu hätte sie.

Die erste Staffel von „Freud“ ist ab dem 23. März 2020 bei Netflix verfügbar.

Jan Hromadko Netflix
Netflix Netflix
Jan Hromadko Netflix