Jahresrückblick

Kunstgeschichte auf YouTube: 5 Videos, die Musikvideos 2018 wieder relevant gemacht haben


Wann wurde ein Popclip zuletzt in 24 Stunden mehr als zehn Millionen mal aufgerufen? Wann diskutierten sich die Feuilletons – und alle anderen – darüber zuletzt derart den Mund fusselig? Childish Gambino, The Carters oder Janelle Monáe prägten das Jahr mit ihren symbolstarken, vielschichtig dechiffrierbaren Kurzfilmen. Ein Blick auf die Neuentdeckung des Musikvideos als Kunstform von gesellschaftspolitischer Relevanz – in fünf Beispielen.

„Internet killed The Video Star“, sang die Band The Limousines vor acht Jahren. Sie hatte ja recht: Seit Musiksender wie MTV ihre Bedeutung als Popkulturbeschleuniger verloren haben, rutschte das einst so wichtige Medium Musikvideo zunehmend in eine Rolle zwischen nettem Beiwerk und notwendigem Übel.

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Doch 2018 erlebte das Video im Pop ein beispielloses Momentum: Clips von Künstlern wie Childish Gambino, eher schwer dechiffrierbare Kurzfilme als schicke Popsongbeigabe, ließen die Köpfe von Fans, Feuilletonisten und sogar Kunstkritikern rauchen.

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Kein Wunder eigentlich: Wie kann man seine Botschaft effektiver um die Welt schicken als in Form von Clips, an denen in sozialen Medien niemand so recht vorbeikommt (auch dank der Video-Autoplayfunktion)? Rechte Populisten haben längst erkannt, dass mit Bildern heute stärker denn je Politik zu machen ist.

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Zeit für Stars wie Janelle Monáe, ihrem Publikum komplexe Gedanken zu Queerness und Rassismus in Musikvideos zu vermitteln. The Limousines irrten also doch: Nein, das Internet hat den Videoclip nicht gekillt – sondern in einer politisierten, ästhetisch avancierten Version zurückkehren lassen.

1. THE CARTERS – „APESHIT“

Mehr Kunstmuseum war nie in einem HipHop-Video: Im Pariser Louvre – dem Zentrum der weißen Kunstgeschichte – feiern Beyoncé und Jay-Z gemeinsam mit Dutzenden Tänzerinnen und Tänzern die Vielfalt schwarzer Körper – und ganz unverhohlen ihren eigenen Reichtum. Obwohl allein diese poppige Intervention in Europas heiligsten Kunsthallen unerhört genug wäre, konnte man in dem Video zu „Apeshit“ weit mehr lesen als eine Hip-Hop-typische Machtdemonstration: Stattdessen deuten die The Carters gleich einen Großteil der europäischen Ikonografie in ihrem Sinne um.

Jede Einstellung ist aufgeladen mit Bedeutung: Hier „Portrait d’une négresse“, ein Bild von Marie-Guillemine Benoist, nahezu das einzige im Louvre, das eine schwarze Frau stolz und schön – und nicht als Sklavin – porträtiert. Dort wirft sich Beyoncé mit ihren Tänzerinnen vor einem Krönungsbild der französischen Kaiserin Joséphine in Pose. Damit erhebt sich Queen Bey nicht nur selbst zur Königin, sondern zitiert auch die Ästhetik ihres längst ikonischen „Formation“-Clips. Und ruft damit in Erinnerung, dass sie maßgeblich an der Reinkarnation des Musikvideos als politisches Statement beteiligt war.

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2. CHILDISH GAMBINO – „THIS IS AMERICA“

Die Welt brennt, Childish Gambino tanzt. Tanzt durch eine leere Fabrikhalle, während hinter ihm Unruhen ausbrechen, tanzt vor einem Chor, um ihn schließlich jäh niederzumetzeln – ein Verweis auf das Massaker von Charleston, bei dem ein Attentäter 2015 neun Afroamerikaner in einem Gottesdienst erschoss.

Im (Beinahe-)One-Take-Video zu seinem Song „This Is America“ visualisiert der Musiker und Schauspieler Donald Glover alias Childish Gambino die Verflechtung von Waffengewalt und Rassismus in den USA, indem er selbst alle Rollen in einer Konsequenz durchspielt, die einen kirre macht. Die des angstvollen Opfers. Die des schwarzen Hampelmannes, der uns mit Grimassen von der allgegenwärtigen Brutalität ablenkt.

Und die des Täters: Aus dem Nichts erschießt Glover einen schwarzen Gitarristen und nimmt dabei mit abgeknickter Hüfte die Haltung der Jim-Crow-Figur ein – in den USA des 19. Jahrhunderts das üble Stereotyp des lustig tanzenden, simpel gestrickten Schwarzen. Verstörender brachte 2018 kein Popkünstler die Simultanität von Gewalt und Gegengewalt, Zerstreuung und Zerstörung der amerikanischen Gegenwart auf den Punkt.

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3. JANELLE MONÁE – „PYNK“

„Deep inside, we’re all just pink“, haucht Janelle Monáe. Und zeigt auch gleich metaphernreich, worauf sie anspielt: Im Video zu „PYNK“ lässt sie stolz und bildgewaltig die weibliche Anatomie (und lesbischen Sex) hochleben. Vor einem in Rosa getauchten Himmel posiert sie mit ihrer Posse in vulvaförmigen Hosen von Designer Duran Lantink – die aber nicht alle Tänzerinnen tragen.

Schließlich braucht man, so Monaé, keine Vulva, um eine Frau zu sein. Pink ist für Monáe nicht nur Code für Fleischlichkeit, sondern auch das, was für Mentor Prince Lila war: Ausdruck queerer Lebensfreude.

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4. EKO FRESH – „ABER“

Gerade, als im Netz der Hashtag MeTwo die Diskussion über Rassismus in Deutschland zu befeuern begann, kamen im Video zu Eko Freshs Single „Aber“ zwei Unversöhnliche an einem Tisch zusammen: Ein weißer Wutbürger und ein nicht minder wütender Migrant knallen sich gegenseitig Pauschalvorwürfe an den Kopf. Schlichten muss schließlich Eko, der türkisch-kurdische Kölner, indem er sich im wahrsten Wortsinn zwischen alle Stühle setzt.

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Dieselbe Versuchsanordnung wählte 2017 schon US-Rapper Joyner Lucas für seinen Clip zu „I’m Not Racist“. Da trug der weiße Schreihals eine „Make America great again“-Kappe. Wir erkennen im Direktvergleich der Rollenspiele: Egal ob die Anspitzer Trump oder Gauland heißen, das Lamento der Rassisten klingt allerorts gleich.

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5. ONEOHTRIX POINT NEVER – „BLACK SNOW“

Mit seinem crossmedialen Konzert-Performance-Projekt „Myriad“ wollte Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never nicht weniger als die Genese menschlicher Dummheit erklären – aus Sicht einer hyperintelligenten Alien-Spezies. Im Video zu „Black Snow“ greift er seine dystopische Symbolsprache auf: Ein spitzzahniges Teufelstier chattet entrückt an einem Uralt-Rechner und muss später vor einem von Blitzen illuminierten Himmel Giftmüll entsorgen.

Lopatin bezeichnet den Clip als „Selbstporträt“: In der Figur des Ungeheuers, das sich aus der chaotischen Welt in die innere Emigration zu verabschieden versucht, thematisiert er seine eigene – und unser aller – Ichbezogenheit.

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