Nun, da der Nebel fällt…


Ben schloss die Tur. Ein paar Sekunden lang verharrte er still und lauschte den Stimmen seiner Freunde, die sich stets mehr von ihm entfernten. Er verstand nicht, ’sie redeten. Ratlos lehnte er mit den Ellbogen an die Tür, dann ging er ins Wohnzimmer. Zigarettenqualm, gemischt mit dem Gestank umgeschütteter Getränke, schlug ihm entgegen. Oberall standen Aschenbecher, Gläser und Raschen, auf dem Teppich lag Asche. „Eine gelungene Party“, sagte er bitter und öffnete das Fenster. Kalte Luft strömte herein. Er blieb ein paar Sekunden davor stehen und atmete tief. Kim lag auf der Couch. Ihre langen Haare waren zerzaust, sie sah müde und abgekämpft aus.

„Es ist kalt“, sagte sie. „Mach‘ das Fenster zu!“

Er schloss das Fenster, setzte sich zu ihr und sah sie eine Weile unbeweglich an.

„Auch du verstehst mich nicht“, sagte er schliesslich ohne Verwurf. Er wusste, dass sie ihn nicht verstand, fühlte instinktiv, dass sie ihn verachtete, aber er war zu müde, um weitere Gedanken daran zu verschwenden.

„Du hast recht“, antwortete sie kühl. „Ich verstehe dich nicht“.

Er legte eine LP auf und versuchte, nachzudenken. Wie konnte das alles nur geschehen? Noch vor zwei Jahren sah alles ganz anders aus. Er war der Sanger und Komponist einer Gruppe, er hatte Erfolg. Sie machten eine Tournee nach der anderen, machten Schallplatten und verdienten viel Geld. Er kaufte sich einen grossen Wagen, dann einen zweiten, er war wie ein Besessener. Er mietete sich eine teure Wohnung in einer vornehmen Gegend, dann heiratete er Kim. War es seine Schuld, dass ihre Platten plötzlich nicht mehr in die Hitparaden kamen? Lag es wirklich nur an seinen Songs?

„Du musst kommerziellere Musik machen“, behauptete sein Manager. „Deine Musik kommt nicht mehr an!“ Aber er konnte keine kommerzielle Musik machen. Alle seine früheren Platten erschienen ihm plötzlich leer und nichtssagend. Er wusste, welchen Weg er gehen musste, hatte aber nicht die Kraft, die Steine aus dem Weg zu räumen. Je weniger Geld sie verdienten, desto mehr stritten sie sich. Es kam zu Uneinigkeiten zwischen ihm und seiner Gruppe, er hatte Krach mit Kim. Heute wollte er sich mit seinen Freunden aussprechen. Er hatte sie eingeladen, viel Whisky gekauft und alles verlief gut Doch je mehr Flaschen geleert wurden, desto mehr stritten sie sich. Schliesslich verliess sein Manager wütend die Wohnung, sein Produzent wollte nicht mehr mit ihm aufnehmen und zwei Leute seiner Gruppe stiegen aus. Sie fanden seine Musik nicht mehr gut genug. Er hatte sie zur Tür begleitet und als sie die Treppen hinunterliefen, wusste er, dass er sie nie wiedersehen würde. Kim stand auf. „Mit dir kann man nicht sprechen“, sagte sie. „Du hast einen verdammten Dickschädel“.

„Warum hörst du nicht auf Deinen Manager? Deine Musik versteht keiner!“ Sie zog sich die Schuhe an, kämmte sich das Haar und holte ihren Mantel. „Wohin gehst du?“ fragte er ruhig, ohne Wut „Das geht dich einen Dreck an“, sagte sie schnippisch und ging.

„Die Ratten verlassen das sinkende Schiff‘, dachte er bitter. Plötzlich dachte er an ein Gedicht, dass er vor Jahren einmal auswendig hatte lernen müssen. Der Name des Dichter war ihm entfallen, ganz deutlich aber konnte er sich an den dritten Vers erinnern. … voll von Freunden war mir die Welt, als noch mein Leben licht war… nun, da der Nebel fällt, ist keiner mehr sichtbar… Seltsam, früher war ihm die Bedeutung des Gedichtes nie zu Bewusstsein gekommen, jetzt verstand er es und die Zeilen wiederholten sich rythmisch in seinem Hirn, Hessen ihn nicht mehr los. Das schmutzige Zimmer und der Gestank kalter Asche deprimierten ihn. Er zog sich seinen Mantel über und machte sich auf die Suche nach Kim.

SINNLOSE NACHT

Es war kalt. Ben steckte die Hände in die Taschen und suchte nach seinen Zigaretten. Er konnte sie nicht finden. Die Stadt war festlich geschmückt, überall Tannenzweige, Weihnachtsbäume… „In vier Wochen ist Weihnachten“, dachte er. Ihm war nicht nach Weihnachten zumute. Er ging in die Altstadt, in der Hoffnung, dort Kim zu finden. Sie hatte viele Freunde und er kannte die Lokaie, in denen sie verkehrte. Er wusste, dass sie ein Verhältnis mit einem anderen Jungen hatte. Manchmal, wenn er stundenlang zu Hause sass und auf sie wartete, dann dachte er, vor Eifersucht wahnsinnig zu werden. Aber er wurde nicht wahnsinnig und verzieh ihr immer wieder. Doch jetzt brauchte er sie. Schliesslich war sie seine Frau; sie musste ihm helfen. Als er sie fand, stellte er fest, dass sie nicht allein war. Der Knabe, der neben ihr sass, hielt ihre Hand. Er ging zu ihr, ohne jemanden anzusehen. „Komm“, sagte er. Sie sah ihn spöttisch an. „Ich bleibe hier“. Ihre Stimme war kühl.

„Warum sollte ich mit dir gehen? Um gemeinsam mit dir zu verhungern?“ Die Leute, die mit ihr zusammen an dem Tisch sassen, lachten. So, als hätte sie einen guten Witz gemacht. Wortlos ging er hinaus. Er spürte die Kälte nicht mehr. Automatisch überquerte er eine Strasse. Ein Auto bremste scharf und hielt dicht vor ihm. Der Fahrer lehnte sich zum Fenster hinaus, rief ihm etwas zu. Er achtete nicht darauf und lief weiter. Schliesslich ging er in eine Kneipe, schüttete zwei Whiskys hinunter. Er wollte sich betrinken, wollte vergessen. Doch der Alkohol machte ihn aggressiv und deprimiert. Ratlos verliess er das Lokal. Plötzlich stand er auf der Rheinbrücke. Instinktiv wie ein Tier hatte er die Richtung gefunden, die er suchte. … „nun, da der Nebel fällt, ist keiner mehr sichtbar…“ hämmerte es in seinem Him, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

„Der Rhein“, dachte er, „jetzt ist alles gut“.

Langsam überquerte er die Brücke, lehnte sich an die Brüstung und sah im Wasser viele Lichter tanzen, auf und ab sprangen sie, es sah lustig aus. Er beugte sich weiter vor, die Lichter tanzten ihm entgegen, das Wasser rauschte, er war so allein wie noch nie in seinem Leben.

„Kim“, dachte er, „Kim…“ Er legte seine Hände auf die Brüstung, stemmte sich hoch – und sprang! Das Wasser war kälter, als er gedacht hatte. Er wollte die Besinnung verlieren, wollte ertrinken. „Doch wenn man schwimmen kann, sollte man sich lieber einen anderen Tod aussuchen“, dachte er verzweifelt, während er ans Ufer schwamm.

DIE RETTUNG

Am nächsten Morgen war sein Körper steif und gespannt, dass jede Bewegung ihm zur Qual wurde. Seine Zunge war rauh, der Hals ausgedörrt, als hätten ihn Flammen versengt und kein Wasser der Welt konnte seinen Durst löschen. Er hatte das Gefühl, sein Kopf sei rlesengross angeschwollen und seine Augen schmerzten. Das Kissen neben ihm war unberührt. Kim war die Nacht nicht nach Hause gekommen. Er stand auf, wusch sich und machte sich einen starken Kaffee. Dann versuchte er, einen Entschluss zu fassen. Der gestrige Tag und die Nacht existierten nicht mehr. Er wollte vergessen. Allmählich ging es ihm wieder besser, seine Lebensgeister regten sich.

„Ich muss ein paar Tage verreisen“, dachte er und plötzlich fielen ihm seine Freunde ein, mit denen er früher oft zusammen war. Er hatte nicht mehr viel Kontakt mit ihnen, wusste aber, dass sie sich ein Haus gemietet hatten und dort als eine Art Kommune lebten. Zwei Wochen später war er wieder zu Haus. Er warf die Reisetasche in eine Ecke des Zimmers, sammelte die Post von der Erde und liess sich in den nächsten Sessel fallen. Sein Entschluss stand fest Er wollte diese Stadt für immer verlassen, nichts hielt ihn mehr. Er war grossartig bei seinen Freunden aufgenommen worden, er wollte zu ihnen ziehen. Sie verstanden ihn, liebten die gleiche Musik. Oft hatten sie abends in einer Diskothek gespielt. Nur so, zum Spass. Verdient hatten sie nichts, aber ihr Publikum war begeistert. An Kim wollte er nicht mehr denken. Ausgelacht hatte sie ihn. Lächerlich gemacht in einem Augenblcik, in dem er ihrer so dringend bedurfte. Das konnte er ihr nicht verzeihen. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Kim öffnete die Tür, steckte den Kopf hinein. Sie trug neue Sachen und sah sehr selbstbewusst aus. Plötzlich wusste er, dass er sie nicht vergessen konnte.

„Hallo Ben“, sagte sie. „Hallo Kim“, sagte er.

„Ich bin froh, dass du wieder hier bist“, ihre Stimme klang viel sanfter als sonst.

„Ich habe dich vermisst!“

„Hat er mit dir Schluss gemacht“, fragte er tonlos.

„Wer?“ Sie lachte.

„Ach so, du meine Güte, du meinst doch wohl nicht Gerd? Das war nichts ernstes, ich hatte mich über dich geärgert, wollte dir weh tun..“

„Das ist dir gelungen“, dachte er bitter. Er hatte keine Lust zu reden. Er wollte seine Ruhe haben. Er lehnte sich gegen die Tür, zündete sich eine Zigarette an und sah an ihr vorbei. „Du liebst mich doch noch?“ fragte sie. „Ja“, antwortete er, „ich liebe dich, das ist mein Fehler“.

ER WAR EIN MANN

Später, als sie auf seinem Schoss sass, die Hände um seinen Hals geschlungen, wusste er, dass sie jpn verachtete, weil er schwach war. Er wusste, er würde seine Freunde im Stich lassen und wieder mit Leuten zusammen arbeiten, die ihm nicht lagen und er würde Platten aufnehmen, die er nicht gut fand und Geld verdienen – weil sie es wollte.

„Nein“, sagte er und stand auf. „Ich kann das alles nicht noch einmal durchmachen“. Verzweifelt lief er zum Fenster. Draussen fiel der erste Schnee. „Du kannst mich nicht verstehen“, sagte er verzweifelt.

„Musik ist mein Leben, ohne sie kann ich nicht existieren. Ich lass mich nicht dazu zwingen, Musik zu machen, die ich nicht empfinde. Meine Musik ist echt, sie ist ein Teil von mir“. Kim stand auf.

„Ist das alles, was du mir zu sagen hast?“ Er nickte. Noch immer sah er sie nicht an, wusste nicht, was sie dachte. Er sah hinaus und beobachtete die Schneeflocken, die langsam zur Erde fielen und rührte sich nicht. Als sie gegangen war wurde ihm bewusst, dass sie sich fremd geworden waren. Er sah, wie sie die Strasse überquerte und sah ihr so lange nach, bis er sie nicht mehr erkennen konnte. Traurigkeit übermannte ihn. Er hatte das Bedürfnis, ihr hinterherzulaufen und ihr zu sagen, dass er sich geirrt hatte, aber er wusste dass alles nur Illusion war. Er hatte gehandelt, wie er hätte handeln müssen. Er war ein Mann und hatte sich wie ein Mann benommen. Er dachte an seine Freunde, an seine Musik. Erfolg und Geld waren nicht mehr wichtig. Seine Musik lebte und er wusste – eines Tages würde auch sie seine Musik verstehen.