Platte des Monats

James Blake Overgrown

Atlas/A&M/Polydor/Universal

Wollen wir das zweite Album des Post-Dubstep-Produzenten aus London als „zugänglicher“ bezeichnen? Ja, wir wollen. Es gibt mehr Songs, weniger Irritationen und zwei unerwartete Gäste auf overgrown: Brian Eno und RZA.

Zwei Jahre nach dem Debütalbum JAMES BLAKE müssten sich die Gemüter der musikalisch schwer Erziehbaren dann doch langsam wieder beruhigt haben. Fragen wie „Das soll Musik sein?“ und „Der hat doch eine gute Stimme, warum zerhackt er die dann so?“ sollten mittlerweile geklärt sein. Damals wurde James Blake häufig zitiert, wie er The xx als Beweis für die Konsensfähigkeit von minimalistischer Musik im weiten Feld zwischen Indie und Electronica anführte. Die Musik von The xx, so Blake, habe den Hörer auf seinen eigenen Minimalismus vorbereitet.

OVERGROWN, das zweite Album des 24-jährigen Londoners, wirkt beim ersten Hören zugänglicher als das Debüt und zugänglicher als die vorher und nachher erschienenen 12-Inches sowieso. Es ist aber nicht abschließend zu klären, ob die Musik von James Blake auf OVERGROWN tatsächlich anhörbarer, „kommerzieller“, massenkompatibler geworden ist, oder ob Sympathisanten wie Hater sich lediglich in der Zwischenzeit an Blakes Art, Musik zu machen, gewöhnt haben. Es ist der xx-Effekt andersherum. Nehmen wir die erste Single „Retrograde“. Sie ist in erster Linie ein wunderbarer Popsong, durch den sich stoisch housige Handclaps und eine trockene Bassdrum ziehen und in dem zum Klimax fast schon penetrant die auf- und abschwellenden Töne eines Analogsynthesizers mit der Gesangsstimme konkurrieren. Sind das die Bausteine, aus denen 2013 ein Mainstream-Popsong zusammengesetzt ist? Wohl eher nicht. Oder so gefragt: Wie kommerziell war eigentlich Blakes Hit-Radio-Single „Limit To Your Love“, damals Ende 2010? Hatte er nicht auch den Feist-Song mit subsonischen und anderen tonalen Ungereimtheiten versehen, die die Hörer von Antenne Brandenburg vor unlösbare Probleme gestellt haben mussten?

Wer überhaupt keine Ahnung hat, wo die Musik von James Blake herkommt, und Skrillex für den Erfinder des Dubstep hält und Dubstep für den heißen Scheiß, weil zurzeit sehr penetrant Genre-Compilations in den Werbepausen seiner Lieblingsfernsehshow „TV Total“ angepriesen werden, wird es leichter gemacht mit diesem zweiten Album. Weil die Musik vorder-

gründig songorientierter geworden ist. Aber sie bleibt ultraminimalistisch, reduziert. Die Einflüsse aus der Bassmusik hat Blake zurückgefahren, vielleicht auch deshalb, weil die Bassmusik in ihrer ursprünglichen Form de facto gar nicht mehr existiert. Manche Tracks, wie etwa „Overgrown“ zum Einstieg, sind Minisymphonien des postdigitalen Zeitalters: reduzierter Beat, Soundscapes, Piano-Romantizismus, die brüchige hohe Stimme – alles ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und so entsteht eine wunderbar dreampoppige elektronische Musik. In „Take A Fall For Me“ ist RZA als Gastrapper zu hören. Der scheinbare Widerspruch zwischen Blakes (hier leicht) verfremdetem Gesang und einem Wortbeitrag eines Mitglieds des Wu-Tang Clan wird durch die Realität aufgehoben. Es funktioniert ganz hervorragend. Beim Track „Digital Lion“ wird Brian Eno als Gastmusiker aufgeführt. Nun darf gerätselt werden, worin der Beitrag des Ambient-Pioniers bestanden haben mag. Ansatzpunkte bietet der Track genug: verwischte Atmosphären, verschlungene Soundscapes.

Blakes Bemühungen um die Re-Installation von gutem Soul und R’n’B in aktuelle elektronische Musiken werden auf OVERGROWN noch deutlicher als auf seinem Debütalbum. Man muss sich nur einmal „To The Last“ anhören. Wenn das kein zeitgenössischer R’n’B-Song ist, wissen wir auch nicht weiter.

****1/2 Albert Koch

Story S. 30

****** der Wahnsinn

***** sehr gut

**** gut

*** ganz okay

** uninteressant

* schlecht