Pretenders, Pirate Radio

Pop, Punk, New Wave:

Oft unterschätzt und von Pophistorikern gerne übersehen: Im Vergleich mit Londoner Szene-Genossen wie The Clash und den Sex Pistols schwächelt die Reputation der Pretenders. Das ist ein Fehler. Beweist doch das vorzüglich kompilierte, chronologisch angelegte 4-CD-plus-DVD-Box-Set PIRATE RADIO den Stellenwert des Quartetts. Ausgestattet mit zahllosen Key-Alben-Tracks, diversen Konzertaufnahmen, raren Singlecuts, seltenen Demoversionen und 15 unveröffentlichten Aufnahmen, gelingt eine umfangreiche Werkschau der New-Wave-Pioniere, vor allem aber das eindrucksvolle Porträt einer außergewöhnlichen Frau: Chrissie Hynde. Die Pretenders waren weniger eine Band als vielmehr das künstlerische Vehikel von Sängerin, Gitarristin und Komponistin Hynde. Der Durchbruch gelang zwar während und mit den Stilmitteln der Punkära. Doch selbst in ihren rauhen Gründertagen waren die Pretenders zu sehr versierte Virtuosen mit Wurzeln im klassischen US-Rock’n’Roll und UK-Pop, tönte das Tremolo von Hyndes Stimme zu sehr nach Perfektion, als daß die Liebelei mit dem Drei-Akkorde-Genre zu einer intensiven Affäre geführt hätte. Zumindest war der rüde Zeitgeist in der ersten Phase der Band noch deutlich spürbar-immerhin jobbte Hynde zwischen 1974 und 1978 in der Boutique und Punk-Urkeimzelle von Pistols-Manager Malcolm McLaren und Modedesignerin Vivienne Westwod auf Londons King’s Road. Das belegen ein frühes Demo („Precious“), die ersten beiden Singles („Stop Your Sobbing“, „Kid“) und dermit „MysteTy Achievement“, „Tattooed Love Boys“, „The Wait“ sowie vier weiteren Stücken knappe Auszug aus dem brillanten Debüt PRETENDERS. Doch die Idee, die Energie des Punk mit den traditionellen Werten des Rock’n’Roll zu einen, währte nur kurz.

Schon vor dem Tod von Gitarrist ]ames Honeyman-Scott und Bassist Pete Farndon ging der Anarchiegedanke verloren, um für einen Stil zwischen Rockabilly, Soul, Americana und vor allem Mainstream-Pop Platz zu machen. Kaum auf der Karriereüberholspur gelandet, hagelte es Schelte von Fans und Kritikern. Der zwiespältig bewertete Nachfolger PRETENDERS 11 grenzte sich mit Rockorientiertem wie „Message Of Love“, „The Adultress“ und „Bad Boys Get Spanked“ von der Londoner Punk-Szene ab, orientierte sich statt dessen an den Swinging Sixties. Zumal sich nach „Stop Your Sobbing“ mit „I Go To Sleep“ innerhalb kurzer Zeit schon das zweite Kinks-Cover im Repertoire tummelte.

Chrissie Hynde befand sich in jener Periode in einem Kreativhoch: Autobiographische Songs wie „Talk Of The Town“. „Time The Avenger“. „Day After Day“, „Show Me“, „Watching The Clothes“ und vor allem das mit der wundervollen Zeile “ …I’m standing in the middle of life, my pains behind me…“ ausgestattete „Middle Of The Road“ landeten auf Single- A- oder B-Seiten, die sowohl in Qualität als auch Produktion den Stil früherer Popepochen beschworen. Hyndes Fixierung auf Mersey Beat, Blues Boom, Mod Soul und Psychedelic Rock spiegelte sich in geschmackvollen Interpretationen von „What You Gonna Do About It“ (Small Faces), „Thin Line Between Love And Hate“ (The Persuaders), Neil Youngs „The Needle And The Damage Done“ und gleich zwei Jimi-Hendrix-Covers („Room Full Of Mirrors“, „Bold As Love“). In ihren Texten finden sich Themen wie Frauenemanzipation, Zwischenmenschliches oder schlicht der Hinweis auf soziale Mißstände: „Hymn To Her“, „Windows Of The World“, „Never Do That“, „Sense Of Purpose“, „I’ll Stand By You“ und selbst „You Know Who Your Friends Are“ aus dem Spätwerk LOOSE SCREW von 2003 atmen diese Philosophie und das Bewußtsein, die im Pop der vergangenen beiden Dekaden zumeist der Ignoranz preisgegeben oder aber nur noch sentimental-kitschelnd ausgelebt wurden. Ihr Gespür für Trends und gesellschaftspolitische Entwicklungen läßt Hynde auch heute nicht im Stich: Schon geraume Zeit bevor weltweit die TV-Suche nach dem Superstar losging, setzte sie sich mit der Problematik künstlicher Medienfiguren auseinander („Popstar“) – eine zeitlose Hymne aus dem empfehlenswerten ’99er Album VIVA ELAMOR!

Doch nicht nur 81 Songs aus rund 27 Jahren belegen die Entwicklung der Pretenders. 19 zum Teil ultrarare Mitschnitte des britischen Fernsehens aus den Jahren 1979 bis 1994 veranschaulichen den Stellenwert und das Ikonenhafte der Band: Gleich fünfmal ist der Dauerbrenner „Top Of The Pops“ am Zug – u.a. in Ur-Besetzung entstandene Interpretationen von „Stop Your Sobbing“, „Brass In Pocket“ und „Talk Of The Town“. Noch dynamischer geraten „The Wait“ und „Tattooed Love Boys“ aus der längst aus dem Programm genommenen Fernsehreihe „Alright Now“ aus dem Jahr 1980 sowie die rund ein Jahr später aufgezeichneten „The Adultress“ und „Louie, Louie“ aus der Musik-Show „Fridays“. Ebenfalls unverzichtbar sind zwei Songs aus „Later With Jools Holland“ aus dem Jahr 1994. Nach vierjähriger Pause präsentierten die reformierten Pretenders zusammen mit dem Gastgeber am Piano „Hollywood Perfume“ und „977“ aus ihrem gerade fertiggestellten Comeback-Album LAST OF THE INDEPENDENTS.

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