Kolumne

Saltcession in Our Wounds: Wir wollen es auf angenehme Art unangenehm


Julia Friese erklärt, warum Fremdscham und Ekel im Pop nur auf fiktionaler Ebene funktionieren.

Drei Beobachtungen:

1. wir wollen es auf angenehme art unangenehm …

Erfolgreiche Pop-Fiction jüngst vergangener Gegenwart hat ein Muster: In der HBO-Serie „Sucession“ (2018-2023) geht es um reiche und wenig sozialverträgliche Geschwister, die sich mit allem, was nicht Recht ist, das Familienimperium des Vaters erschleichen wollen. In ihrer Mitte ein angeheirateter Eindringling, der zum Beispiel auf sehr unangenehme Art fremde Hähnchenkeulen isst. „Succession“ in Gänze ist unangenehm.

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Emma Clines zweiter Roman „Die Einladung“ (Hanser, 2023) erzählt die saturierte Welt der Hamptons aus der Sicht eines Eindringlings: Ein wenig sozialverträgliches Callgirl wird von ihrem Sugar Daddy rausgeschmissen und stiehlt sich in Folge unter falscher Vorgabe durch Betten, Villen und Pools, immer bis zur denkbar unangenehmsten Situation. Man will aufhören zu lesen, kann aber nicht.

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In Emerald Fennels zweitem Film „Saltburn“ (2023) dringt die Titelfigur aus der Mittelschicht unter falscher Vorgabe in die exorbitant reiche Welt des britischen Adels ein. Erzählt wird das in memeable wie unangenehmen Szenen, wie etwa der, in der der Mittelstands Eindringling aristokratisches Spermabadewasser trinkt, oder der Grab-Penetration, einer Szene, die der Schauspieler Barry Keoghan spontan improvisiert haben will, was sie an sich natürlich noch viel angenehmer macht.

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Alle drei Erzählungen wurden exzessiv diskutiert, keine endet happy. Das Muster ist deutlich: Möglichst amoralische Protagonist:innen werden in so unangenehmen wie absurden Szenen vor der angenehmen Kulisse übermäßigen Reichtums erzählt. Ziel all jener Figuren: selbst Reichtum zu erschleichen.

2. … und illegally rich

Bunt überzeichnete negative Narrative scheinen gerade am wirksamsten, um die realen Polykrisen zu überblenden. Dabei folgen wir offenbar gerne Protagonist:innen, die als Außenseiter:innen nach finanzieller Stabilität suchen, beziehungsweise diesen Publikumswunsch in finanzieller Macht überzuerfüllen versuchen. Und das natürlich illegal. Denn alles andere wäre uns zu unrealistisch.

Passend dazu trendet auf TikTok die sogenannte Mob-Wife (also Mafia-Ehefrauen-)Ästhetik: Pelze, Stiefel und große Haare zur Perlenkette. Die nachträglich satt sorglos kolorierten Neunziger, aber make ’em „Sopranos“. Zufällig feiern die in diesem Jahr ihr 25. Erstausstrahlungs Jubiläum.

3. … aber eigentlich doch am liebsten stabil

Fremdscham und Ekel funktionieren im Pop allerdings nur auf fiktionaler Ebene. Da ein Popstar zwar durchaus als Bühnen igur, aber dennoch als irgendwie real wahrgenommen wird, lässt sich das Muster auf seine Gewerke nicht übertragen. Siehe: Ye. Der verursacht immer wieder stark unangenehme Szenen, von einer cringy Präsidentschaftskandidatur (sehr „Sucession“), über die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsfantasien hin zum Blowjob auf einer venezianischen Gondola (sehr „Saltburn“). Und hat mit der aus einer italo-australischen Mafia-Familie stammenden Bianca Censori auch noch eine echte „Mob Wife“ an seiner Seite. Zeitgeistiger geht es wahrscheinlich nicht.

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Da der Zeitgeist dieser Tage allerdings gehörig spukt, ist der gegenwärtig größte Popstar Yes direkte Antagonistin, die optisch schon immer leicht demodé wirkte, nun aber auch musikalisch zurückkehrt zur Abschlussball-Rachefantasie anno circa 2007. THE TORTURED POETS DEPARTMENT ist dem Anschein nach ein erneutes Ex-Lover-Abrechnungs-Album. Es verwendet degeneratives Teenager-Vokabular wie „loml“ (love of my life ) und „down bad“ (notgeil). „All is fair in love and poetry“, entschuldigt sich Taylor Swift via Instagram mit einer Stanze, direkt aus dem Englisch LK. Sie sei sanft berichtigt: „All is fair in art and fiction.“ In Kunst und Fiktion ist alles erlaubt. Oder nicht.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 4/2024.