Interview & Feature

Björk, die glückliche Wasserleiche


Björk Guðmundsdóttir hat ein schmerzvolles Kapitel ihres Lebens abgeschlossen. Um das nächste aufzuschlagen, hat sie ein Manifest verfasst, in Form ihres neuen Werks UTOPIA, ihrem „Anohni-Album“. Damit ist der ästhetisch fortschrittlichsten Künstlerin unserer Zeit ihre bisher avancierteste Musik gelungen.

Nicht weit von Reykjavík, nur etwa 40 Autominuten westwärts, liegt der Nationalpark Þingvellir. In dieser für isländische Verhältnisse vergleichsweise lieblichen Ebene fanden früher die Volksversammlungen der Wikinger statt, und hier wurde 1944 auch feierlich die Republik ausgerufen. Mit Blick durch fünf bodentiefe Fenster und über die hölzerne Terrasse hinaus auf die silberne Oberfläche des Sees, unter dem der Grabenbruch zwischen der europäischen und der amerikanischen Landmasse verläuft, hat Björk Guðmundsdóttir UTOPIA geschrieben. Die Hütte ist wirklich nur eine bessere Hütte und wurde 1965 gebaut. Es gibt zwei Schlafzimmer, ein großes Wohnzimmer, eine schnuckelige Küche. Nichts Besonderes. Nichts lenkt ab vom Blick hinaus auf die Landschaft. Und nichts lässt darauf schließen, dass hier die ästhetisch fortschrittlichste Künstlerin unserer Zeit an ihrer bisher avanciertesten Musik gearbeitet hat.

Vielleicht muss das so sein. „Der Ort ist nicht mein Paradies“, schreibt Björk. Der Ort ist nicht wichtig, wenn man den Nicht-Ort sucht, das Utopia. Der Sehnsuchtsort liegt anderswo. Eigentlich wollten wir mit Björk telefonieren. Doch wenige Minuten vor dem Termin meldete sie sich mit einer Absage. Eine schlechte Nacht habe sie gehabt, sie wolle ihre Stimme schonen. Gern könne sie die Fragen schriftlich beantworten. Die Enttäuschung darüber schlägt schnell um. Björk beantwortet unsere Fragen so vielleicht freier und präziser, als es ihr mündlich möglich gewesen wäre.

„Wenn jemand neu anfängt, ist eine Art Manifest unverzichtbar, um eine Utopie zu formulieren.”

Und Fragen gibt es viele zu UTOPIA, das sie zusammen mit Arca aufgenommen hat, dem venezolanischen Produzenten hochveredelter, galvanisierter, scharfkantiger Klangflächen – hier reduziert und beinahe ins Ambienthafte abgedrängt, in eine leicht verzauberte Mildheit, die ihm sehr gut steht. Björk und Arca müssen eine gute Zeit verbracht haben. Im südamerikanischen Dschungel. Am See in Island. In New York. Man hört die Papageien. Das Geplätscher. Den Wind zwischen den Wolkenkratzern. Vor allem hat Björk, wieder einmal, Island in ihre Musik hineingeholt. Island: Was Bob Marley für seine Insel, das ist Björk für ihre. Eigentlich sollte sie Regierungspräsidentin sein, ehrenhalber, auf Lebenszeit. Zwar mag man über diese ganze Geysirscheiße, den Elfenkitsch nichts mehr lesen. Trotzdem hat sie „das Land“, gewissermaßen, noch nie so tief in ihre Kunst gelassen.

„Es war ein Abenteuer, die Flöten für dieses Album zu arrangieren. Ich habe ein Ensemble mit zwölf Mädchen gegründet, und wir probten und nahmen immer freitags auf, zwei Monate lang. Es war eine ziemliche Arbeit, das alles fein abzustimmen und das Timbre zu ändern, um eine möglichst breite klangliche Palette in alle 13 Songs zu packen“, schreibt Björk. Darüber hinaus gibt es einen Chor zu hören, denselben Chor, in dem „ich selbst schon als Teenager gesungen habe, es ist einer der renommiertesten in Island. Du hörst ihn in ‚Body Memory‘, zusammen mit isländischen Vögeln, Natur, Wind. Es sollte sein wie das eigene Utopia eines Menschen, als würde er bereits darin leben – und der Song sollte seine Nationalhymne sein.“

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Es bedarf des Organischen, wenn man nach dem Utopischen strebt. Und es bedarf der Utopie, wenn etwas Organisches gestorben ist. Bei Björk war es die Beziehung zum Künstler Matthew Barney, aus der die Tochter Isadora hervorgegangen ist. Nach der Trennung und einem hässlichen Streit um das Sorgerecht, der sich in seiner emotionalen Brutalität und Kälte auch auf VULNICURA niederschlug, betrachtet Björk UTOPIA als ihren Soundtrack zum Neuanfang. „Ich habe das Gefühl, dass ein dramatisches Kapitel beendet ist. Nun ist es Zeit, ein neues aufzuschlagen“, schreibt sie. „Wenn jemand neu anfängt, ist eine Art Manifest unverzichtbar, um eine Utopie zu formulieren. Für mich ist das ein Ort, an dem du ein Lied hören, für deine Liebsten etwas kochen und alles Negative in etwas Positives verwandeln kannst.“

Dem Neuen muss eine Dringlichkeit zugrunde liegen

In gewisser Hinsicht ist UTOPIA auch so etwas wie ihr „Anohni-Album“. Mit der Transgender-Aktivistin hat Björk lange Gespräche geführt, beide teilen die Auffassung, dass sich im Umgang der Gesellschaft mit Frauen der Umgang des Menschen mit seiner Umwelt widerspiegelt. Und in stürmischen Zeiten kann eine Künstlerin wie Björk sich natürlich nicht zurückziehen. Sonst hätte sie ihr Album ja auch „Refugium“ nennen können. Die Utopie ist nie privat, enthält immer auch eine gesellschaftliche Perspektive. Björk ist überzeugt, dass die Utopie „gerade im Hinblick auf Umweltthemen eine absolute Notwendigkeit ist. Technologien erfinden und einsetzen, um unsere Ozeane vom Plastik zu reinigen! Grüne Energie einführen! In vielerlei Hinsicht ist mein Album sozusagen eine gewaltfreie, matriarchale Stellungnahme. Weil Umweltverschmutzung eine gegen uns alle gerichtete Gewalt ist.“

„Die Idee ist, dass die Apokalypse bereits stattgefunden hat. Und es ist an uns, die Überbleibsel zu etwas Neuem zusammenzufügen. Aufräumen. Den Kurs ändern. Natur und Technologie Hand in Hand arbeiten lassen.“

Über Politik möchte sie nicht sprechen, das sieht sie nicht als ihre Aufgabe. Ist denn nicht trotzdem alles Private politisch? „Absolut. Als Popmusikerin habe ich das Gefühl, dass persönliche Politik und öffentliche Politik oft zusammenfallen. Deshalb ist Pop auch so eine aufregende Kunstform, um sich darin auszudrücken. Pop vereinfacht auf gute Weise und gibt manchen Dingen so mehr Gewicht. Der Alltag kann oft chaotisch sein und die Klarheit eines Songs so hilfreich.“ Die Utopie, das Manifest, der Plan ist dabei immer ein Notfall.

Dem Neuen muss eine Dringlichkeit zugrunde liegen, weil es sonst keine Notwendigkeit für Neues gibt. Wenn UTOPIA politisch ist, dann gerade in der radikalen Engführung von Intimem und Öffentlichem. Worum es ihr geht, erläutert Björk beispielhaft an einem alten Song, „Declare Independence“ von VOLTA. Schon damals hatte es ihr „großen Spaß gemacht, so mit den Worten zu spielen, dass es sowohl als Lied über den Unabhängigkeitskampf von Grönland oder den Färöern mit Dänemark gehört werden kann – aber auch als innerer Monolog eines Menschen, der in einer Beziehung unterdrückt ist und nun für seine Rechte einsteht. Es war also politisch und persönlich zugleich. Ich wünschte, jeder hätte seine eigene kleine Utopie, um seinen Traum zu definieren. Selbst wenn nur die Hälfte davon Realität würde, wäre schon viel gewonnen.“ Den fiktiven Bericht über eine fiktive Insel von Thomas Morus, dem wir den Begriff der Utopie in seiner heutigen Form überhaupt verdanken, hat sie nie gelesen. Und zu Helmut Schmidt – der empfahl, wer Visionen habe, solle „zum Arzt gehen“ – will sie lieber nichts sagen. Politik ist nicht ihr Metier, und wenn, dann nur Körperpolitik.

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Ihre Lieblingsserie der vergangenen Jahre ist „Drag Race“, ein Dragqueen-Spektakel mit hohem Trash-Faktor. Das Queere hat nicht nur etwas Befreiendes für Björk, es kommt auch dem transgressiven Charakter ihrer Arbeit entgegen. Grenzüberschreitung wirkt nicht nur in ihrer Musik, sondern auch in der visuellen Umsetzung. Nach mehreren Inkarnationen wirkt Björk auf aktuellen Bildern zur Platte – und im Video – wie eine glückliche Wasserleiche. Alles Neue, weiß sie, hat auch etwas Abstoßendes, Erschreckendes, war aber immer „auch ein elementares Bedürfnis der Menschheit. Es gibt so viele verschiedene Wege, auf denen man dieses Ziel erreichen wollte. Klöster beispielsweise sind besonders langlebige Beispiele dafür. Aber auch Gedankengebilde wie der Kapitalismus oder der Kommunismus. Immer wenn wir als Gesellschaft einen Umbruch erleben, ist es erschreckend und ängstigend und kaum möglich, sich eine neue Welt überhaupt vorzustellen.“

Musik kann mit ihrem transzendierenden Potenzial nicht nur dazu beitragen, eine neue Welt zu imaginieren. Sie kann auch selbst ein solcher Sehnsuchtsort ein. UTOPIA ist „aus dem Blickwinkel geschrieben, diesen Wunschort bereits erreicht zu haben. Ich beschreibe Pflanzen und Vögel und Geräusche, die niemals jemand zuvor gehört hat. Das fand ich aufregend. Die Idee ist, dass die Apokalypse bereits stattgefunden hat. Und es ist an uns, die Überbleibsel zu etwas Neuem zusammenzufügen. Aufräumen. Den Kurs ändern. Natur und Technologie Hand in Hand arbeiten lassen.“

Die Möglichkeit einer Insel der Glückseligkeit

Diese Einstellung ist der Schlüssel zur besonderen Stimmung eines Albums, das Björk zwar nicht auf dem Gipfel der Unbeschwertheit oder Euphorie, aber dennoch so optimistisch und leichthändig wie selten zeigt. Kein wütendes Stampfen, kein triumphales Dröhnen – dafür mit verführerischer, stiller Strahlkraft. UTOPIA formuliert, lässt man sich darauf ein, nichts Geringeres als die Möglichkeit einer Insel der Glückseligkeit, ähnlich der, die Thomas Morus vor 500 Jahren zu skizzieren versuchte. „Die Utopien, die wir haben, und die Utopien, nach denen wir streben“, fallen an diesem Ort der Zeitlosigkeit zusammen.

Die Sache mit der bereits geschehenen Apokalypse und der unabdingbaren Notwendigkeit zum Neuanfang leuchtet ein, versenkt man sich in den Blick, den Björk aus ihrem Wohnzimmer in Þingvellir genossen hat. Es ist eine einzigartige Landschaft, vergleichbar wohl nur mit einer auf einem anderen, entscheidend jüngeren Planeten. Typisch allerdings auch, dass dieser Blick inzwischen ausgedient hat. Die Hütte, das Refugium, der Sehnsuchtsort auf dieser Insel, den man noch auf der Website des Immobilienhändlers studieren kann, ist bereits verkauft. Es liegt in der Natur der Avantgarde. Sie deutet auf das, zu dem wir hinwollen – und ist selbst immer schon weiter und weg.