Pop x Politik

Status: Es ist kompliziert


Der deutsche Pop und sein Verhältnis zu Politik und Gesellschaft. Ein Essay zur Bundestagswahl 2017.

Privat, politisch oder nicht?

Über ihre Motive können wir nur Vermutungen anstellen, aber in Interviews mit vermeintlich unpolitischen Künstlern begegnen einem häufig ähnliche Antworten, wie sie uns der King of Rap Kool Savas gegeben hat: „Ich würde nicht behaupten, dass ich ein politischer Musiker bin, eher eine politisch interessierte Privatperson.“ Das Problem an solchen Aussagen ist nun allerdings, dass man nicht gleichzeitig in der Öffentlichkeit stehen und politisch interessierte Privatperson sein kann. „Als Künstler wird man immer als politische Person betrachtet“, sagt Flavio Bacon von Human Abfall – und hat natürlich Recht. Savas hat vielleicht noch nie den alten Sponti-Spruch „das Private ist politisch“ gehört, aber eigentlich widerspricht er sich selbst, wenn er außerdem sagt: „Ich denke, Energien in jeglicher Hinsicht nehmen Einfluss auf den Empfänger.“

„Als Künstler wird man immer als politische Person betrachtet.“

– Flavio Bacon (Human Abfall)

Insofern lässt sich auch über den angeblich so unpolitischen deutschen Schlager nur eines sagen: es gibt ihn nicht. Der Schlager der Nachkriegszeit hatte als Soundtrack zum deutschen Wirtschaftswunder die klare politische Funktion, den Grauschleier der Vergangenheit wegzuwaschen oder wenigstens zu übertünchen. Der von Jan Böhmermann hervorgehobene Giesinger-Song „Wenn sie tanzt“ wäre ein schöner Anlass gewesen, mangelnde gesellschaftliche Solidarität für Erziehungsarbeit zu beklagen oder das zunehmende Auseinanderklaffen der sozialen Schere durch einen wachsenden Niedriglohnsektor und das damit verbundene drohende Abgleiten alleinerziehender Mütter ins soziale Abseits.

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Wohlfühllieder für Minifluchten aus dem Alltag

Stattdessen beschreibt Giesinger Kinder indirekt als Verhinderer eines gelungenen Lebens und deren Erziehung als Frauensache. Die Protagonistin hat – so viel Emanzipation muss sein – eine „ganz normale 50-Stunden-Woche“ und ist außerdem Mutter, weswegen sie weder „auf ein Date gehen“, noch „eine Pause einlegen“ könne. Als Mittel gegen die Frustration, die sich aus dieser Gemengelage ergibt, empfiehlt Giesinger eine sparsam dosierte Realitätsflucht: „Wenn sie tanzt, ist sie woanders.“

Insofern bewegt er sich tatsächlich in der Tradition des Schlagers der 50er- bis 70er-Jahre, aber unpolitisch ist er ebenso wenig wie etwa Johanna von Koszian, die in ihrem Lied „Das bisschen Haushalt“ 1977 den aufkeimenden Feminismus ironisch konnotiert und weitgehend folgenlos in die Schlagerwelt überführte.

https://youtu.be/NoZ050vCa8c

Beide, Giesinger und Koszian, sind dahingehend sogar sehr politisch, als dass ihre Liedkunst explizit systemerhaltend ist: Sie machen eskapistische Wohlfühllieder für folgenlose Minifluchten aus dem Alltag.