Kritik

„Dispatches from Elsewhere“ bei Amazon Prime: Ein Märchen für Verlorene


Mit viel Ruhe und Szenen wie aus einem Wes-Anderson-Film erzählt die erste Staffel von „Dispatches from Elsewhere“ vor allem eine Geschichte der Hoffnung. Die Serie mit und von Jason Segel läuft ab dem 8. Mai bei Amazon Prime.

Stille. 20 Sekunden lang. Ein schweigender Richard E. Grant starrt einen regungslos an. Eine für TV-Verhältnisse ewige Stille. Beinahe möchte man meinen, das Bild sei eingefroren. Doch der Auftakt zur neuen Serie „Dispatches from Elsewhere“ will auf Nummer sicher gehen: Nicht mehr als die volle Aufmerksamkeit soll von Beginn an den folgenden Geschehnissen geschenkt werden. Genau darum bittet der britische Schauspieler in den ersten Minuten der Auftaktfolge. Ungewöhnlich im Vergleich zu anderen Serien? Durchaus. Ungewöhnlich für diese Serie? Keineswegs.

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Das tiefe Tal der Bedeutungslosigkeit

Lust an Neuem und Ungewohnten setzt die als Anthologie konzipierte Serie voraus. Nicht nur bei den Zuschauer*innen, sondern auch bei den Protagonist*innen selbst. Peter (Jason Segel), Simone (Eve Lindley), Fredwynn (André Benjamin) und Janice (Sally Field) stehen im Zentrum der ersten Staffel auf Amazon Prime Video, die sich durch eine unscheinbare Besonderheit auszeichnen: Normalität, die beinahe schmerzt. Sie sind weder hip, haben keinen außergewöhnlichen Job oder finden Halt in einem großen Freundeskreis. Sie bewegen sich an der Grenze zum Vergessenwerden, versinken in der Anonymität des Alltages und haben sich teilweise selbst aufgegeben. Während Peter ein Leben voller bedeutungsloser Wiederholungen lebt, versteckt sich Transgender Simone hinter einer zerbrechlichen Mauer des Selbstschutzes, die bei der kleinsten Emotion einzustürzen droht.

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Durch eine Reihe eigenartiger Vorfälle landen Peter und seine Mitstreiter unabhängig voneinander im Jejeune Institut. Leiter Octavio Coleman (Richard E. Grant) verspricht ihnen eine Möglichkeit, wie sie aus ihrem unsichtbaren Dasein entkommen können. Alles, was sie tun müssen, wird in Form eines sonderbaren Spieles an sie herangetragen. Was mit poetischen Bildern beginnt und ungehemmtes Tanzen im Regen oder märchenhafte Schnitzeljagden nach sich zieht, führt die Gruppe immer weiter in eine magische Welt, deren Glanz ein düsteres Mysterium verbirgt. So viel sei gesagt: Big Foot, Verschwörungen und sprechende Fische sind nur der Beginn des Pfades, der direkt in den Kaninchenbau führt.  

Anders sein ist das neue Normal

Irritiert und mit viel Skepsis lassen sich die vier Unbekannten auf das surreale Spiel ein. Dass das Jejeune Institut wirklich existiert und die erkundeten Schauplätze real sind, glaubt keiner der Beteiligten wirklich. Doch der Wunsch nach einem neuen Plan im Leben weckt ihre Lust auf das Abenteuer. Raus aus der Normalität, hinein in das Spielparadies – für all diejenigen, für die Follower und Reichweite so interessant sind wie Staubwischen. Dabei stellt sich den introvertierten Hauptfiguren die Frage: Ist das Spiel außergewöhnlich oder sind es die Spieler selbst?

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Jason Segel, der kreative Kopf und Schöpfer hinter der Serie, hat bereits auf der diesjährigen Berlinale im Februar 2020 mit den ersten Episoden für verwirrte Blicke und offene Fragen gesorgt. Schon in seiner Paraderolle Marshall Erikson aus dem Dauerbrenner „How I Met Your Mother“ zeigte der gebürtige Kalifornier, dass er ein Herz für charmante Nerds besitzt. Die intelligente und von ihm verfasste Liebeskomödie „Nie wieder Sex mit der Ex“ aus dem Jahr 2008 brachte ihm in Hollywood den Ruf als legitimen Nachfolger von Judd Apatow ein. Die Kunst, den Normalo von Nebenan mit alltäglichen Wünschen als Helden zu etablieren, beherrscht Segel ohne Frage. Normal sein kann nicht jeder.

Zulassen, loslassen, fallen lassen

Hinter der stillen Geschichte, die sich durch charmantes Retro-Feeling und einer liebevollen Ausstattung auszeichnet, steht die Akzeptanz und Toleranz des eigenen Ichs. Schon die ersten beiden Folgen mit den Titeln „Peter“ und „Simone“ bieten zahlreiche Szenen voller Schmerz, die Zuschauer*innen mindestens einmal im Leben selbst erfahren haben. Wenn sich Peter für seine Arbeit als Digital Analyst bei einem Musikportal schämt oder Simone mit der Akzeptanz in der LGBTQ-Community hadert, ist Empathie nicht von der Hand zu weisen. Doch der Look der Show, der streckenweise an Skizzen eines nie gedrehten Wes-Anderson-Werks erinnert, verwandelt die emotionalen Momente in eine wunderbare Leichtigkeit, die von Hoffnung erzählt. „Dispatches from Elsewhere“ ist eine intelligente Feel-Good-Serie, die wir in den aktuell wirren Zeiten so unbedingt brauchen.

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Peter, Simone, Janice und Fredwynn bleibt nichts anderes übrig als sich fallen zu lassen und dem Abenteuer zu folgen. Raus aus der Desillusion, hinein in das Unbekannte. Das Geheimnis von Jejeune ist Teil der Geschichte, doch der Fokus bleibt eine alternative Ansicht für alle Mitspieler*innen. Ein Märchen für Erwachsene, das Fantasie und Vorstellungsvermögen von seinen Betrachter*innen verlangt, wie Octavio Coleman in seiner Eingangssequenz unmissverständlich erläutert: „Betrachten Sie Peter als sich selbst.“

Die erste Staffel von „Dispatches from Elsewhere“ (zehn Folgen mit je ca. 60 Minuten Laufzeit) läuft ab dem 8. Mai bei Amazon Prime Video.

Prime Video, AMC Networks Inc.
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