Meinung

Mit S!sters ins nächste Desaster: Warum Deutschland den ESC einfach nicht versteht


Am Samstag, dem 18. Mai, findet das Finale des Eurovision Song Contest 2019 statt. Deutschland kann sich auf das nächste Desaster einstellen – und das hat Gründe.

Die Überraschung und gleichzeitige Freude war groß im vergangenen Mai: Der bis dato unbekannte Singer/Songwriter Michael Schulte führte Deutschland mit seinem Beitrag „You Let Me Walk Alone“ bis auf Platz 4 des Eurovision Song Contest 2018 – und damit auf die beste Platzierung seit Lena Meyer-Landruts Sieg 2010 mit „Satellite“.

Der Erfolg des seitdem wieder in der Versenkung verschwundenen Schultes lässt sich nicht mit der musikalischen Qualität seines Songs, sondern viel mehr mit anderen Einflussfaktoren des Mikrokosmos ESC erklären: Mit Michael Schulte hatte das in weiten Teilen Europas als kühl und berechnend betrachtete Deutschland einen sensiblen jungen Mann ins Rennen geschickt, der in seiner – obendrein selbstgeschriebenen – Nummer das eigene Schicksal nach dem frühen Tod seines Vaters verhandelt. Schulte holte das Publikum dort emotional ab, wo es zuvor nur durch Pyrotechnik und Trickkleiderentwirrungen sensitiv bombardiert wurde.

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Dass eine neue Empfindsamkeit beim ESC für Erfolg sorgen kann, dafür hatte nicht zuletzt der Portugiese Salvador Sobral mit seinem Erdrutschsieg 2017 gesorgt. Auch in den Jahren zuvor waren es nicht immer die Akteure mit den größten Bühnenshow-Etats, die siegreich aus dem europäischen Sangeswettstreit gingen, sondern die mit den stärksten Charakteren und interessantesten Geschichten. So war es auch nicht der von Stefan Raab ausgewählte, durchaus gefällige Ohrwurm „Satellite“ (geschrieben von Julie Frost und John Gordon), der den ESC 2011 nach Deutschland holte, sondern die unbekümmerte Persona der damals 19-Jährigen Lena Meyer-Landrut.

Lena :: Only Love, L

Doch es scheint, als könne das deutsche Publikum, das durch seine Anrufe und Stimmen im Vorentscheid den deutschen Beitrag zum ESC (mit-)bestimmt, dieses offen daliegende Puzzle nur alle Jubeljahre lösen. Hatte man im Folgejahr des Erfolgs erneut auf Lena und 2012 mit Roman Lob auf eine Art männliches Pendant der Sängerin gesetzt und damit veritable Platzierungen eingefahren, brach sich der pathologische Wunsch der deutschen ESC-Verantwortlichen nach vermeintlichem internationalen Flair und Größe in grausamer Weise Bahnen.

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Corporate-Pop statt Charakter, Kopisten statt Originale

Der Grund hierfür: Deutschlands Beiträge waren zu leicht als Versuche, vergangene Erfolgskonzepte zu kopieren, zu dechiffrieren. Besonders zu nennen seien dabei Cascada als „Weltact“, der von der vermeintlichen Liebe Osteuropas zu Rummeltechno partizipieren sollte (2013, 18 Punkte, Platz 21), Elaiza als platter Versuch einer Ethno-Pop-Pastiche (2014, 39 Punkte, Platz 18) und Manga-Mädchen Jamie-Lee, deren unkonventionellen Look Deutschland auf Teufel komm raus nutzen wollte, um auf der Diversity-Welle mitzureiten (2016, 11 Punkte, letzter Platz).

Dazwischen reihen sich mit Ann Sophie (2015) und Levina (2017) zwei junge Frauen, deren Optik als Kleiderbügel für konturenlosen Corporate-Pop, zusammengeschrieben von einer Handvoll Profi-Songwriter aus den USA und Schweden, genutzt wurden und mit denen Deutschland den letzten (mit 0 Punkten) und vorletzten (mit 6 Punkten) Platz erreichte. Besonders ihr Abschneiden, in Kombination mit dem Erfolg Michael Schultes, hätte Deutschland final für die Entwicklung des ESC wachrütteln müssen. Tat es jedoch nicht.

Statt seine Hoffnung erneut auf ein junges, Gefühle transportierendes Gesicht zu setzen, wählte Deutschland das erst vier Wochen vor dem nationalen Vorentscheid zusammengecastete Duo S!sters (schon das P!nk-Gedächtnis-Ausrufezeichen im Namen hätte alle Alarmglocken läuten lassen müssen) zum ESC 2019. Ihr Song „Sister“ beinhaltet alle Zutaten, die Deutschlands Blamagen aus den Jahren 2015 und 2017 zu verantworten hatten: massenkompatibler, dabei aber steril gekochter Radio-Castingshow-Pop, Musik und Text aus den Händen eines internationalen Mainstream-Songwriting-Konsortium und zwei Akteurinnen, die Vitae liefern, die absolut keinen Stoff zum Hängenbleiben beim Prä-ESC-Interviewmarathon liefern.

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Deutschland hätte die Chance gehabt mit der am Vorentscheid teilgenommenen Indie-Singer/Songwriterin Lilly Among Clouds das Michael-Schulte-Momentum weiter zu nutzen. Deutschland hätte die Chance gehabt mit Drangsal, der sich öffentlich als ESC-Beitrag bewarb, einen Charakterkopf, einen echten Agent Provocateur ins Rennen zu schicken. Doch Deutschland entschied sich für die gute alte Großmannssucht und fiel auf die Idee rein, dass die Musik, die tagein, tagaus aus dem Radio schallt, beim ESC die größte Erfolgschance hat. Deutschland hat den ESC noch immer nicht verstanden – und hat sich deshalb mit S!sters bereits jetzt fürs Desaster entschieden.

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