Popkolumne, Folge 106

NDW, Trap, Improv-Comedy: Zombie-Genres drehen auf – Volkmanns Popwoche im Überblick


In unserer Popkolumne präsentiert Linus Volkmann im Wechsel mit Paula „Wann kommt Nuller Revival?“ Irmschler die High- und Lowlights der Woche. In der Kalenderwoche 10/2021 geht es um die NDW, Sam Vance-Law, Palas, die Schillerstraße und das Guilty-Pleasure-Finale. Atmet in eine Tüte, richtet den Scheitel mit Spucke und denkt an was Schönes... Die neue Popwoche fährt vor!

LOGBUCH: KALENDERWOCHE 10/2021

Die Woche wird eingeleitet vom Weltfrauentag. Obwohl … Weltfrauentag? Da geht es doch schon los. Was ist das denn für ein bürgerlicher Chai-Latte-Wohlfühl-Sprech? Nein, sorry, die Zehner Jahre sind vorbei, es sollte mittlerweile feministischer Kampftag heißen. Mindestens!

Sonst kommt am Ende eines im Netz völlig ritualisierten Tages wirklich nichts anderes heraus als ein paar virtuelle Blumen und klickgeile Lippenbekenntnisse. Und vielleicht noch ein paar Ausschlüsse hinsichtlich Non-Binary-, Trans- und Inter-Personen, deren Struggle bitte nicht das florale Muster des Weltfrauentags stören möge.

Das längst auch kommerziell aufgeladene Gehubere um den 8.März bringt die Autorin Margarete Stokowski in ihrer Kolumne sehr schön auf den Punkt. Darf ich hier eigentlich überhaupt auf den Spiegel verlinken? Ach, bestimmt nicht. Aber ist ja Margarete! Da gilt safe Ausnahmeregel.

ACT DER WOCHE: PALAS

Eine der interessantesten Plattformen der hiesigen Musik-Gemengelage ist sicher das Empire von Rap-Entrepreneurin Lina Burghausen. Deutscher HipHop ohne sie wäre ziemlich penis. Also noch mehr penis als eh schon! Auf dem Label 365XX erscheint nun Palas, ein Trap-Duo aus Freiburg und Berlin. Mehr Kilometergeld geht kaum. Und wer jetzt denkt, dass das oft schlecht beleumundete Genre Trap schon auserzählt sei, darf noch mal absteigen aus seinem Wolkenkuckucksheim mit Feuilleton-Anmutung. Trap, das hören die Kids sehr wohl noch, wenn sie mir die Jacke abziehen im Park. Und Palas pointieren den Sound noch mal so richtig – mit reduzierten Beats und Vocals zwischen Dringlichkeit und Somnambulismus.

Für diesen Act fange ich echt das Kiffen wieder an:

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EP DER WOCHE: „NDW“ VON SAM VANCE-LAW

Im Januar 2020 traf ich auf einer Podiumsdiskussion der Pop-Summit-Conference auf den kanadischen Popper Sam Vance-Law. Sein Zwei-Daddys-Adoption-Song „Gayby“ hatte mich bereits für seine Kunst eingenommen, in der persönlichen Begegnung war ich dann aber noch mal mehr Feuer und Flamme. Der Kanada-Berliner sprach fast akzentfrei deutsch (gut, darin muss man sich jetzt nicht unbedingt verknallen), war verschmitzt und übertrieben witzig. Seine zweite Platte stünde im Sommer 2020 an, erzählte er. Ich sagte, was ich immer sage, wenn wer mit einem Album droht: „Das interessiert mich“. Nur hier meinte ich es zur Abwechslung auch so. Doch Sams Platte kam nicht – dafür aber Corona.

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Nun erscheint zumindest ein wunderbares Durchhalte-Geschenk, sowas wie die Schokolade, die die Bahn verteilt, wenn’s mal wieder länger dauert. Sam Vance-Law hat NDW-Stücke gecovert. Da klingen selbst rundgehörte Hits plötzlich wieder frisch statt egal. Ein wahnsinnig pointiertes Wiedersehen mit zum Beispiel „Eisbär“ und Ina Deters „Neue Männer braucht das Land“.

Foto: Jannik Morton Schneider

DAS KLEINSTE INTERVIEW DER WOCHE: SAM VANCE-LAW

Seit Januar 2020 warte also (sicher nicht nur ich) auf die neue Platte von Sam Vance-Law. Tiktak, Zeit vergeht. Diese jetzt noch mal dazwischen geschobene NDW-EP sei daher Aufhänger genug, um Sam nach dem aktuellen Status Quo zu fragen.

Wie steht es um die Veröffentlichungen Deiner zweiten Platte und wie abgefuckt bist Du von der ganzen Situation?

SAM VANCE-LAW: Als die CD-Verkäufe einbrachen und sich alles nur noch aufs Streaming konzentrierte, etablierte sich der Spruch: „Das Geld steckt im Live-Geschäft“. Denn Konzerte waren das, was Künstlern verblieben war, um zumindest halbwegs ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Zuge der Covid-19-Pandemie wurden dann quasi alle Shows gecancelt. Erstmal für das Jahr 2020 – und 2021 nun stehen die Zeichen für Live-Musik weiterhin schlecht. Die meisten meiner Freunde sind Musiker oder arbeiten in der Kultur, es ist für uns alle, als wäre uns der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Es gibt keine Einnahmen mehr. Und auch keine Möglichkeiten, mit anderen Musikern an Stücken zu arbeiten. Also was soll man in einem Studio, das man nicht mehr bezahlen kann, noch aufnehmen, wenn mitunter nicht mal Proben möglich sind? Und wie kann man Musik in die Welt bringen, wenn man diese niemandem live präsentieren kann? Ich bin für mein Musikprojekt und die Leute verantwortlich, also selbst wenn ich die Regeln missachten würde, stünde ich vor der Frage: „Ist ein Song es wert, möglicherweise deine Band in Lebensgefahr zu bringen?“ Da muss die Antwort manchmal eben doch ein „Nein“ sein…

Und wie fucked up ich bin? Ach… mir geht’s okay. Mein Job existiert nicht, die ganze Musikwelt hat sich dezimiert, aber ich hatte zumindest die Zeit, mich damit abzufinden. Bloß eine Platte kann man gerade einfach nicht rausbringen. Daher arbeiten wir immer weiter an ihr (und wie!) und ich hoffe auf eine Veröffentlichung Ende des Jahres. Du willst einen verbindlichen Termin? Verbindlich – dieses Wort ist schon lange nicht mehr im Gebrauch.

Wie kommst Du als jemand, der nicht aus Deutschland stammt, auf Songs der NDW? Und wer sind Deine Favoriten abseits der, deren Stücke auf der EP auftauchen?

Hier ist eine Sache über NDW, die man vermutlich nicht versteht, wenn man Deutscher ist, einfach weil einem der Sound seit Ewigkeiten so vertraut ist: Diese Songs sind großartig, es war das letzte Mal, dass deutschsprachige Künstler zusammenkamen und dachten: „Wollen wir vielleicht mal was ganz Frisches aufstellen?“ Ich denke, so MUSS es gewesen sein. Klar gab es hier auch danach tolle Künstler, die in ihrer Muttersprache sangen, aber dass so eine große Anzahl von Musikern einfach total abgedreht ist, ist mir nicht mehr untergekommen. Okay, vielleicht noch im Techno, aber bei dem kann man ja nicht mitsingen. Für mich stellt die NDW die deutsche Popkultur dar, bei der auch ich andocken konnte. Und sollte es ein Sequel zu meiner NDW-EP geben, würde ich gern draufpacken: Ideal, Nena, Rio Reiser, Palais Schaumburg, Die Doraus und Die Marinas und vielleicht sogar Trio, also sollte ich gleichzeitig übermütig werden UND den letzten Lebenswillen verlieren…

Gibt es soundmäßig in Kanada etwas Vergleichbares zu der NDW?

Mein Wissen über die Popmusik-Historie ist begrenzt, aber mir ist keine Zeit bekannt, in der in Kanada so viele Leute innerhalb so kurzer Zeit an etwas so Charakteristischem geschraubt hätten. Immerhin haben wir in den 2000ern im Indie-Pop ziemlich gekillt, aber das war letztlich nicht so wild wie die NDW.

SERIE DER WOCHE: MIDDLEDITCH & SCHWARTZ

Ich will hier ja nicht antideutsch rüberkommen, schließlich haben wir nicht die Woche, in der Paula Irmschler auf Sendung ist… Aber dennoch schulde ich dieser wunderbaren Kolumne mal ein offenes Wort zur Comedy-Sektion auf Netflix. Also nicht die, in der lustige Spielfilme stehen, sondern diese Live-Shows von professionell witzigen Leuten. Da klicke ich natürlich nie hin. Denn beim englischsprachigen Content kenne ich mich nicht aus – und zu den deutschen Comedians, deren Programme man hier findet, möchte ich mich ausschließlich ritzen. Nicht die Arme, ich spreche von der Netzhaut. Felix Lobrecht, Kaya Yanar, Luke Mockridge, Mittermaier und wer da sonst noch im Gag-Schaufenster des Grauens geparkt wurde…

Umso schöner, dass ich hier nun was aus USA entdeckt habe, das ich mit warmer Empfehlung an euch weitergeben kann. Improv-Comedy, das kannte ich bis dato noch aus der deutschen Sendung „Schillerstraße“, hielt es demzufolge für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Verbrechen ohne Skript, aber dafür mit Maddin Schneider und ähnlichen Karteileichen.

Wie unfassbar vielschichtig, humorvoll und überraschend das Format eigentlich geht, kann man bei „Middleditch & Schwartz“ in drei gefilmten Bühnenshows nachschauen. Wer das alles schon wusste … ja, sorry! Wem das dagegen nix sagt, unbedingt mal reinschauen. Zum Piepen, Leute! Schwör’s euch, beim Leben von Felix Lobrecht.

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MEME DER WOCHE

GUILTY OR PLEASURE: TOP 10 (90s Edition)

Eine Lieblingsrubrik sagt leise „Fuck off!“. Das war es also mit „Guilty Or Pleasure (90s Edition)”.
Regelmäßig wurde hier am Ende der Kolumne immer ein verhaltensauffälliger Act aus dem Pop-Kanon der Neunziger wieder hervorgeholt – und sich eben gefragt: Guilty or pleasure? Unerträglich oder doch irgendwie geil heute?

Auf dem Musikexpress-Profil auf Instagram wird es früher oder später noch eine Abstimmung in den Storys geben. Die letzten zehn Einträge in der Rubrik stehen zur Wahl. Entscheidet mit! Es treten gegeneinander an:

  • 4 Non Blondes
  • Babylon Zoo
  • Culture Beat
  • Deep Blue Something
  • Fischmob
  • Heroes Del Silencio
  • Natalie Imbruglia
  • Lucilectric
  • Oli P.
  • U96

Wer ist immer wieder gern gehörtes Guilty Pleasure und was kann weg? Mehr demnächst, noch diese oder erst nächste Woche, unter @musikexpress_magazin.

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Fix me: Paulas Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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