Kritik

„Nobody Knows I’m Here“ auf Netflix: Er kam, sang und verlor sich


Im chilenischen Filmdrama spielt „Lost“-Darsteller Jorge Garcia einen traumatisierten Sänger, der sich in der ländlichen Abgeschiedenheit neu findet. Die Geschichte ist packend, berührend und eine Ode an die Kraft des Gesangs.

Soziale Isolation ist dieser Tage alles andere als ein Fremdwort. Doch die Gründe, wegen derer sich Memo (Jorge Garcia) in „Nobody Knows I’m Here“ in die Abgeschiedenheit des ländlichen Chiles begibt, haben nichts mit einer Pandemie zu tun. Memo, der eigentlich Guillermo heißt, ist ein verhinderter Kinderstar, der Probleme damit hat, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. In den 80ern bot sich ihm die vermeintliche Chance, auf der großen Bühne Erfolg zu haben. Er sang im Studio Songs ein, überzeugte alle mit seiner schönen Stimme. Doch die Fernsehproduzenten befanden den schon als Kind pummeligen Memo als nicht vorzeigbar genug, weswegen prompt der gleichaltrige und den Vorgaben eher entsprechende Angelo aus dem Hut gezaubert wurde, der dann vorm Fernsehpublikum auftreten und zu Memos Stimme Playback singen sollte. Er landete einen Hit, als Angelo Casas, aber mit Memos Stimme. Der Song heißt wie der Film: „Nobody Knows I’m Here“. Doch in einem folgenschweren Wutanfall änderte der junge Memo dann nicht nur den Verlauf seines, sondern auch den von Angelos Leben auf fatale Art und Weise. Daran hängt sich die Handlung von „Nobody Knows I’m Here“ auf – und soviel darf vorab gesagt werden: Der Film weiß zu überzeugen.

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Warum Memo in dem psychischen Ausnahmezustand ist, in dem wir ihn nun viele Jahre später im chilenischen Niemandsland vorfinden, erfahren wir nach und nach durch klug montierte Rückblenden. Das mehr als beachtliche Regiedebüt von Gaspar Antillo führt uns nicht nur tief in die Seele des Protagonisten, sondern auch in eine abgelegene Region Chiles: Memo lebt ebenda mit seinem Onkel Don Braulio (Luis Gnecco), der seinerseits ebenfalls ein Freund des Einsiedler-Lebens ist und vor Ort eine Farm unterhält, auf der er Schafe hütet. Hierbei unterstützt Memo ihn. Die Farm des Onkels erreicht man nur, wenn man einen See mit einem Boot überquert und man kann sagen, dass das nicht so viele Leute machen, dementsprechend verbringen Memo und sein Onkel sehr viel Zeit unter sich.

Der, der sich und seine Stimme versteckt

Auch wenn wir Memo als jemanden kennenlernen, der eine sehr schöne Stimme hat, bekommen wir diese nicht oft zu hören, sprich Memo doch nicht viel. Eher schweigt er sich durch diesen Film, entgegnet den meisten Konversationen entweder nur durch kurze, wütende Antworten, durch stoische Verschlossenheit oder auch durch Wegrennen. Memo-Darsteller Jorge Garcia, den die meisten noch aus Rolle als Hurley in der legendären Mystery-Serie „Lost“ kennen, legt hier eine fulminante Performance hin, die das Trauma, die Qual, ja die Last eines gescheiterten Musikers glaubwürdig erscheinen lässt.

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Antillos Film punktet vor allem aus zwei Gründen – und das hat erstmal nichts mit der Musikthematik zu tun: Erstens ist der Film eine exzellente Persönlichkeitsstudie, eine Art Psycho-Drama-Thriller. Die Art und Weise, wie der Ursprung des Traumas des Protagonisten eingeführt wird, geben dem ein außerordentliches Maß an Suspense, entfaltet die Geschichte doch nach und nach einige äußerst spannende Facetten. Zweitens lässt der Film auch Raum für die ein oder anderen mysteriösen Seitenaspekte: Mag es das grundlegend schon einmal traumartig wirkende Setting sein, das mitunter nicht immer schlüssige Verhalten von Memo oder der ein oder andere Moment, der einfach unerklärt oder ungeklärt geschieht. „Nobody Knows I’m Here“ lässt Raum für Spekulation, für Weiterdenken und das darf einfach auch mal so sein.

Memo lebt zwar in einem Versteck, gänzlich unentdeckt bleibt er aber nicht: Selbst im Niemandsland begegnet Memo einer Frau, nämlich der jungen Marta (Millaray Lobos), die es schafft, dass sich der traumatisierte Mann öffnet und es vollbringt, sich der Vergangenheit zu stellen. Vor allem aber hilft Marta Memo dabei, seine schöne Gesangsstimme wieder zu entdecken. Ab diesem Moment wird für Memo nichts mehr so sein, wie es vorher war.

Ein weiterer toller Film aus Chile

Jorge Garcia, der schon damals ein absoluter Liebling unter „Lost“-Fans war –  die Band Weezer widmete seinem Charakter Hurley gar ein Album und packte ein Porträt von ihm aufs Cover – mimt Memo als einen schweigsamen, zarten Riesen, der gefühlvoll Bühnenkleider näht und stets mit sich, seinem eigenen Willen und seinem unerfüllten Lebenswunsch ringt. Seine Schauspielleistung ist noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass er kaum redet. Er schafft es aber dennoch – oder deswegen? – uns seinen Memo umso näher zu bringen, durch Gesten, durch Mimik.

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Das größtenteils spanischsprachige Drama ist zudem auch abgesehen von Jorge Garcia toll besetzt. Ob Alejandro Goic, der Memos Vater Jacinto spielt, Gastón Pauls, der den erwachsenen Angelo spielt oder auch Luic Gnecco als Onkel Don Braulio: Der Cast ist hochkarätig. Mit letztgenanntem Gnecco ist auch ein Darsteller an Bord, der bereits mit Chiles bekanntestem Regisseur arbeitete: Unter der Regie von Pablo Larraín („Jackie“, „No“) spielte er im Film „Neruda“ die Hauptrolle und mimte den legendären chilenischen Schriftsteller Pablo Neruda. Auch Kameramann Sergio Armstrong („El Club“, „No“) arbeitete zuvor mit Larraín, der im Übrigen auch beim vorliegenden „Nobody Knows I’m Here“ als Produzent fungierte und seine Kameraarbeit ist schlicht außerordentlich: Armstrong fängt das ländliche Setting wunderbar ein und versteht es auch die Aufnahmen aus den 80ern toll kontrastierend darzustellen.

Doch nicht nur deswegen kann man diesen Film als einen weiteren Eintrag in das seit einigen Jahren mehr als florierende chilenische Kino sehen, für das neben bereits erwähntem Larraín vor allem Sebastián Lelio („Eine fantastische Frau“) als wichtigster Vertreter genannt werden kann.

Dem Regie-Debütanten Gaspar Antillo ist hier eine stimmige Meditation über die Schatten der Vergangenheit gelungen, die ansprechend montiert ist und visuell die Zeitsprünge zwischen den 80ern, wo wir den jungen Memo (Lukas Vergara) sehen, und der Jetztzeit anschaulich umsetzt. „Nobody Knows I’m Here“ ist ein einfühlsam erzähltes Drama über die Schwierigkeit des Überwindens von einschneidenden Erfahrungen, über das Abschließen mit Traumata und über das Verfolgen der eigenen Träume. Memos Traum hängt sich zwar vor allem an der Musik, hier konkret am Gesang, auf. Musik spielt in dem Film aber eher die Rolle eines Ventils, durch das sich Memo ausdrücken könnte, aber lange nicht traut. Einzig fehlt ihm die Bühne, die er nie bekommen hat, die er so gerne gehabt hätte. Memo singt singt kaum, aber wenn er es dann mal tut, dann mit voller Inbrunst, mit voller Freude. Das ist ungemein berührend zu sehen, ist es doch der Inbegriff dieses einen großen Auftritts, dieser einen Sternstunde, auf die musikalische Underdogs hinträumen.

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Freilich enthält „Nobody Knows I’m Here“ auch eine scharfe Kritik an der Unterhaltungsindustrie: Der Film thematisiert ihre Schattenseiten und ihre Fehler, wie die Oberflächlichkeit, der Bezug auf das Aussehen oder das Ausnutzen von Memos Stimme zum eigenen Profit. Es interessiert offenbar nur das Pop-Produkt, nicht der Mensch dahinter.

Doch am Ende ist es vor allem ein Film über Vergebung geworden, zart und lebhaft erzählt. Und nicht zuletzt auch ein außerordentlicher Geheimtipp mit einem Hauptdarsteller, an den man schon länger nicht mehr dachte, der hier aber seine vielleicht beste Karriereleistung abliefert. Aber Achtung: Der titelgebende Song „Nobody Knows I’m Here“ – es ist der Hit, um den sich ja irgendwie alles dreht – wird noch eine Weile im Ohr nachklingen.

„Nobody Knows I’m Here“, auf Netflix im Stream verfügbar