Popkolumne, Folge 110

Tanzen, als ob niemand zusieht – weil wirklich niemand zusieht: Paulas Popkolumne über den Verlust von Pop (und DMX)


„Pop tut irgendwie weh. Pop ist nur noch eine Ahnung, keine Idee mehr. Ich kriege es nicht mehr zu fassen. Ich hab versucht, Pop hinterherzurennen, ihn einzufangen, aber er will hier nicht mehr wohnen.“

Gestern Abend hatte ich einen … Wie nennt man das, wenn man noch nicht schläft, sondern rumliegt, sich rumwälzt, die richtige Kissenposition schon seit einer halben Stunde sucht und ständig irgendwas vorgibt, zu jucken? Tagtraum ja wohl nicht. Dümpeltraum, ja.

Hatte plötzlich eine Fantasie, in der ich wieder im Club an der Kasse arbeitete, wie ich es eine ganze Weile gemacht habe. Ich würde eine halbe Stunde vor Einlass auftauchen, wir hätten erstmal ein Konzert. Es wäre im kleinen Raum, denn es handelt sich um eine noch nicht so bekannte Band. D. würde mich mit Umarmung begrüßen, er macht heute die Produktion und zählt mit mir die Kasse. Dann kommt J., der Securitymensch, wir umarmen uns auch, quatschen, gleich geht es los, die ersten Gäste stehen schon draußen, es sind die Fans. Sie geben mir ihre Tickets, ich reiße sie ab, gebe sie ihnen zurück, ein paar stehen auf der Gästeliste, ein paar wollen noch Abendkasse, das Geld wandert hin und her. Sobald das Konzert eine halbe Stunde geht und niemand mehr kommt, kann ich es mir selbst ansehen.

Ich stehe mit etwa zweihundert Leuten in dem Raum, von dem mir jede Ecke vertraut ist. Noch ist alles schön sauber. Ich sage C. an der Garderobe „Hallo“, sie macht heute auch den Merch. An der Bar arbeiten S. und T., sie geben mir eine Cola, danke. Ich tanze ein wenig, quatsche mit D. Die Band gefällt uns gut, D. erzählt, er habe sie schon mal in einer anderen Stadt hier in der Umgebung gesehen und dann empfohlen, eigentlich sind sie aus Frankreich. Nach Ende strömen alle wieder raus, Umbau, ich gehe etwas essen, eine kleine Runde spazieren, in einer Stunde geht es weiter mit einer sehr beliebten Partyreihe.

Als ich zurückkomme, stehen die Leute schon bis um die Ecke. Wieder Geld zählen, diesmal mit N., sie ist jetzt in Charge. B. auch, er kommt, gibt mir Küsschen links, Küsschen rechts, immer ein bisschen weird, da richtig zu treffen, aber es ist okay. Jetzt muss es schnell gehen, so schnell wie möglich müssen so viele es geht rein, Geldwechsel, Stempel auf Ärmchen, viel Nähe von Fremden. Manch eine*r will etwas fragen, muss an mein Ohr, so ist das eben, alles klar. N. bringt mir einen Schnaps, hat einen kleinen Schluck abtrinken müssen, weil das Glas zu voll war, um es ordentlich rauszubuchsieren, hihi. Wir teilen uns ein Bier. Immer wieder Geld zählen und in die Sicherheit schaffen. Einlassstopp. Kurz aufs Klo, durch unzählige halbnackte Menschen drücken, ein bisschen ekeln wegen Männerschweiß, aber der Song, der gerade läuft, ist toll. Shazam auf dem Klo, mit der Person, die vor der Kabine wartet, anlächeln. Auf dem Rückweg nach draußen jemanden entdeckt, den ich privat kenne und lange nicht mehr gesehen habe, wir quatschen kurz, schön, diese Zufallsbegegnung, weiter geht’s. B. lässt noch paar Leute rein, der Ticker sagt, es ist eigentlich schon fast zu voll, aber B. ist scharf auf das Geld, zehn mehr gehen noch. J. zwickt mich, bevor ich was Gemeines sage, und wir lachen zu dritt, weil B. es natürlich checkt.

Boah, fuck, wie konnte das denn alles passieren?

– Fragt sich mein Vergangenheits-Ich von vor drei Jahren. Wie konnten wir nur so kurz nachdem wir uns noch so selbstverständlich busselten und drängten, in dieser tristen Welt leben? Masken, Abstand, Desinfizieren, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, eine Politik, die völlig daneben ist und Clubs und Konzerte? Was war das nochmal?

Ich verliere den Bezug zu dem allen, es ist nur noch eine schöne Vorstellung bei Schlaflosigkeit, und am schlimmsten ist: Ich verliere damit den Bezug zu Pop.

Als ich als Kind und Teenie einsam in meinem Zimmer saß und Pop entdeckte und bis zur Peinlichkeit zelebrierte, geschah das alles unter dem Gesichtspunkt, dass das irgendwann nach draußen geht, dass das Teil einer großen Selbstverwirklichungssache ist, die noch ansteht. Dass ich mit Leuten tanzen werde, Leuten begegnen werde, die dieselbe Stelle in dem selben Song lieben, dass ich zu diesem Song mal knutschen werde, zu einem anderen weinen. Dass ich diese Person, von der ich Fan bin, irgendwann mal auf einem Konzert sehen werde und mir die Knie schlottern werden.

Jetzt, auch wieder einsam in meinem Zimmer, fühlt es sich wie das genaue Gegenteil an: Pop tut irgendwie weh. Pop ist nur noch eine Ahnung, keine Idee mehr. Ich kriege es nicht mehr zu fassen. Ich hab versucht, Pop hinterherzurennen, ihn einzufangen, aber er will hier nicht mehr wohnen. Die Besuche werden immer kürzer, manchmal ist es nur ein kurzes Hallo. Ich hab die Listen abgecheckt und die Blogs gelesen um zu wissen, was Neues rauskommt, aber es bleibt nicht hängen, ich hab seine Hand verloren. Musikentdeckerei findet für mich am Frühstückstisch bei Freunden statt, die einen tollen Song in die Bluetoothbox ballern, mit einer Freundin auf der Couch fläzend, sie am Kiffen, ich am Grübeln, es findet beim Verlieben und Verzweifeln an Worten und Begegnungen statt und dem Suchen nach der einen Textstelle, die genau das aussagt, was man gerade empfindet. Und es sind die Vorbands, die überraschend besser sind als die eigentlichen Acts oder eben genauso gut, es ist dieser eine Song um vier Uhr morgens, von dem man sich wundert, warum man ihn bisher nicht kannte. Es ist irgendein Arschloch im Park, das mega nervt mit seiner ultralauten Penisbox, aber dann kommt ein geiles Lied, das dann alle miteinander versöhnt.

Bis vor Kurzem konnte ich noch auf die Sehnsucht setzen: Bald wieder, im Sommer wieder, es wird wieder, wiederwiederwieder. Aber mit diesem Hin-und Hergeschiebe der letzten Wochen, mit diesem ungeschönten vor den Latz knallen, dass wir wirklich alle nur Kapitalismusressourcen sind: It’s almost gone.

Zwei Popsachen haben mich trotzdem noch was fühlen lassen in der vergangenen Woche. Da ist also noch was übrig. Was Trauriges und was Schönes.

DMX

Dass DMX gestorben ist, ist ungeheuerlich. Der Ultratyp, dessen Songs wir Anfang der 2000er pumpten, ist sterblich, was ist denn das für eine Scheiße? Dann gab es aber dieses Video, in dem hunderte Fans zum “Ruff Ryders‘ Anthem” abgingen und den … äh, Leichnam des Rappers, der aus dem Krankenhaus gefahren wurde, begleiteten. Weird, aber auch wahnsinnig toll.

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Blond und Lafee

Wer den Podcast „Da muss man dabei gewesen sein“ von Nina und Lotta Kummer (beide Teil der Band Blond) regelmäßig hört, weiß: Die beiden sind die größten Lafee-Fans, die es gibt. Und jetzt ist das passiert, wovon man als Superfan immer träumt: Sie trafen auf ihr Vorbild. Für die Reihe „Stay Live“ (ZDF) traten Blond im UT Connewitz in Leipzig auf und Lafee war ihr Publikum. Dazwischen sieht man Passagen, wie sie sich unterhalten, es geht ums Berühmtwerden, weibliche Vorbilder, die Entwicklung ihrer Musik und natürlich ums Dabeibleiben während Corona. Unfassbar schön und wholesome.

Die Power des Pops, was, Leute? Ich erinnere mich.

Fantasieküsschen links, Fantasieküsschen rechts.

So überschätzt ist David Lynch wirklich: Volkmanns Popwoche im Überblick

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