Reportage

Pop als Billigware: Wie Spotify die Musik bestimmt


Spotify zahlt Künstler*innen viel zu wenig. Darüber sind sich alle einig. Trotzdem hat der Konzern die Musikbranche fest im Griff. Über das Stimmungsbild in der deutschen Szene, über den Wandel der Zeit, und warum es anders nicht mehr geht. Oder doch?

Clara Lucas tippt die letzten Worte in ihr Handy: „I am so proud of this song“, schreibt sie in die Ankündigung. Zuletzt kommen ein paar Hashtags hinzu: #releaseday #music #handmade #spotify. Dann noch der blaue Pfeil oben rechts. Fertig. 1.364 Abonnent*innen können nun auf Instagram sehen, dass „In My Universe“ auf Spotify verfügbar ist.

Clara ist eine junge Sängerin. Sie lebt in Hamburg und studiert den „Dr. Langner Jazz Master“ (ja, das ist ein Studiengang). Für sie steht es gar nicht zur Debatte: Ihre Musik ist auf Spotify zu hören. Jeder Mensch, der einen Account hat, kann ihre Lieder streamen – zu jeder Zeit, so oft er will, und nahezu kostenlos. „Das ist auf jeden Fall so gut wie nix!“, sagt die Sängerin zum Thema Vergütung. „Ich sehe es als Künstlerin eher als Marketingtool für meine Musik und als Möglichkeit, neue Musik zu entdecken.“

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Clara weiß aber genauso gut: Es ist das Zeitalter, in das sie hineingeboren wurde. Sie ist 23 Jahre alt. CDs hat sie nie verkauft, Geld bekommt sie vor allem durch Konzerte. Es gab Zeiten, in denen Künstler*innen von ihren Songs allein leben konnten, in denen der Verkauf von Platten und CDs die Haupteinnahmequelle war, anstelle von Konzerten und Merchandise. Diese Zeiten sind vorbei. Das bestätigen auch Musiker*innen, die den Wandel miterlebt haben. So berichtet etwa die deutsche Metal-Band J.B.O.: „In den 90ern haben wir zwei ‘Goldene’ für jeweils 250.000 verkaufte CDs bekommen. Damals waren die Konzerte Nebensache, wir lebten von den Verkäufen. Das ist heute genau umgekehrt.“ Streaming-Dienste, allen voran Spotify, haben die CD so gut wie verdrängt.

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Leo Asal, fotografiert von @frauanikafotografiert (Instagram)

Wie Clara Lucas ist auch Leo Asal ein neues Gesicht der Musikszene. Er studiert Jazz und Popularmusik in Köln, Hauptfach Schlagzeug. Außerdem leitet er die Produktionsreihe Loft Arts: Wechselnde Gastkünstler*innen singen ihre Songs, aber neu interpretiert und mit anderer Besetzung – nämlich mit Leo und seinen Kolleg*innen. Gerade ist ein neues Video online gegangen. Der Gastkünstler ist Lostboi Lino. Mit pinken Haaren steht er am Mikrofon. Daneben zwei Gitarristen und ein Kontrabassist. Leo, schwarz gekleidet, kurze Haare, Brille, bedient das Schlagzeug. Seine Bewegungen zeigen, wie die Musik ihn mitnimmt; wie der langsame Beat eins wird mit seinem Körper. Man sieht es kostenlos auf YouTube und hört es kostenlos auf Spotify. Dort wird es von allen geteilt, die involviert sind, und natürlich hat auch Leo ein Profil.

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Doch für ihn steht ein Wandel bevor – den berühmten Jahresrückblick von Spotify möchte er 2021 nicht mehr miterleben. Bis dahin will der 21-Jährige zur Alternative wechseln: zu Tidal. „Das ist immer noch nicht optimal“, erklärt der junge Schlagzeuger, „aber es ist ein Schritt in eine bessere Richtung. Tidal hat gute Qualität und die Vergütung ist dreimal besser als bei Spotify.“ Gute Qualität. Das ist auch der Punkt, mit dem die noch recht junge Streaming-App (2014 entwickelt) für sich wirbt: Die App bietet eine feinere Auflösung als die meisten anderen Plattformen. Je nach Abonnement reicht diese bis zu 24-bit und 96 kHz (besser als CD-Qualität).

„Wer auf Spotify nicht gehört wird, wird nicht gehört“

So richtig im Mainstream angekommen ist Tidal dennoch nicht. Das beobachten auch Leute aus der Branche. Stumpen, Sänger der Rockband Knorkator, erklärt: „Soll wohl eine gute Qualität haben. Aber wen interessiert das heute? Der Hörer sucht seinen Streaming-Dienst nicht nach Qualität oder Honorierung für den Musikanten aus, sondern nach Verfügbarkeit und möglichst für umme. Auf Spotify sind wir vertreten, weil der Vertrieb uns darum gebeten hat. Wer dort nicht gehört wird, wird nicht gehört. Schöne Kacke. Aber damit rutschen wir eben knapp an Hartz IV vorbei.“

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Rund 0,004 Cent pro Stream ist die Vergütung bei Spotify. Wenn man nicht gerade The Weeknd heißt, kann man nur schwer davon leben. Das ist der Grund, warum der Streamingdienst seit Jahren unter Kritik steht. Thom Yorke (Radiohead), Mike Portnoy (Dream Theater) oder Taylor Swift – sie alle hatten in der Vergangenheit ihre Probleme mit Spotify. Auch in der deutschen Szene fallen harte Worte: „Spotify ist, was Verkäufe betrifft, der Teufel“, melden sich etwa Die Happy zu Wort; eine Rockband, die seit über 20 Jahren im Geschäft ist. „Musik verliert dadurch enorm an Wert, die Vergütung der Streams ist ein Witz – erst wenn sich das ändert, macht es Sinn!“

Das Interessante: Auch eine Band wie Die Happy ist – trotz Alternativen wie Tidal – mit sämtlichen Alben auf Spotify vertreten. Der schwedische Konzern hat die Musikwelt erobert, die älteren wie die jüngeren Generationen. Obwohl die Lage derart kritisch ist, dass von Hartz IV die Rede ist, und obwohl selbst junge Künstler*innen wie Leo Asal Anlass dafür sehen, die Plattform zu wechseln, ändert sich nichts. Was macht der umstrittene Anbieter richtig?

Was macht Spotify richtig?

Clara Lucas sieht die genannten Punkte ähnlich kritisch. Die Vergütung sei ein No-Go; die App ein zweischneidiges Schwert. Denn auf der anderen Seite sind die Vorteile der Plattform enorm: „Das Coole ist halt, wenn man Follower hat, kriegen die direkt meine neuen Songs in den Release-Radar. Es gibt außerdem den Reiter ‘Konzerte’, wo man immer sieht, wenn eine Band live spielt. Ich bin auch schon oft auf Konzerte gegangen, weil ich auf Spotify gesehen hab‘, dass derjenige in der Nähe spielt.“ Bands, die sich vor allem als Live-Acts bezeichnen, profitieren also besonders von der App. Aber auch für die genannten Künstler*innen, die einst von ihren Platten leben konnten, gibt es nicht nur Nachteile. So erklärt Jan Delay: „Für den Backkatalog ist es super! Also wenn du mal vor 20 Jahren viele Hits hattest, die durch Spotify immer noch oder wieder gehört werden, dann ist das sogar noch besser als das frühere Model der CDs.“

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Und dann sind da noch die Playlists: Sollte ein Song von Clara es schaffen, in eine Editorial-Playlist aufgenommen zu werden (also in eine offizielle Playlist der Spotify-Redaktion), wäre das die beste Promotion, die sie kriegen könnte. Die Musik steuert damit genau auf die Hörerschaft, die nach diesem Genre sucht, und schon ist Clara einer der neu entdeckten Artists vieler Spotify-Jahresrückblicke. Solche Konzepte gibt es auch anderswo, aber hier eben besonders billig, mit einer riesigen Auswahl, und mit guten Algorithmen. „Irgendwann hab ich’s mit Apple Music probiert, weil die den Künstlern mehr zahlen“, so die Sängerin, „und mittlerweile habe ich das wieder gekündigt, weil Spotify einfach so viel besser funktioniert.“

Trotz allem will Schlagzeuger Leo Asal so schnell nicht aufgeben. Musik als Billigware zu verkaufen, ist ein Dorn im Auge und würde es auch immer bleiben. Auch er weiß, der digitale Markt hat den analogen besiegt, und das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Doch wie die Zukunft dieses Marktes aussehen wird, das ist aus Asals Sicht noch nicht entschieden. Dafür sei das Zeitalter noch zu jung und der Wandel noch zu spürbar. Im Moment ist der Drummer noch auf beiden Plattformen verfügbar. Bald will er jedoch ganz zu Tidal übergehen. Und möglichst viele Leute mitnehmen. Zumindest er gibt sich optimistisch: „Wir haben es noch in der Hand.“

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Anika Maierhöfer